Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 9. März 1905

Stein. Kreuz 2a, Bremen

9.März 05.

Lieber alter Freund!

Durch Uebersendung Deiner „Lebenswunder“ und durch die herzlichen Begleitworte hast Du mir eine ganz besondere Freude gemacht. Nimm meinen wärmsten Dank dafür! Beim ersten Durchblättern Deines Buches habe ich den Eindruck erhalten, daß es ungemein reich an Anregungen ist. Besonders lebhaft hat sich mir die Vorstellung aufgedrängt, wie außerordentlich groß die Mannichfaltigkeit der Erscheinungen in der uns umgeben-||den Welt ist. Jeder kann sich zu einer gegebenen Zeit nur mit einer gewissen Menge von Tatsachen so genau beschäftigen, daß er sie vollkommen beherrscht. Es ist mir nun merkwürdig, wie für mich vielfach andere Erfahrungen im Vordergrunde des Interesses stehen als für Dich, obgleich wir doch bei im wesentlichen gleichen Grundanschauungen unsre Untersuchungen auf nahe verwandten Wissensgebieten anstellten. Um nur eins beispielsweise anzuführen, so erscheinen mir die sog. „Bakterien“ der Leguminosenknöllchen als die rätselhaftesten und fremdartigsten aller bekannten Organismen. Ohne Chlorophyll und ohne Verwertung der Lichtenergie bauen sie organische || Verbindungen auf, in die sie den molekularen Stickstoff, der sonst so spröde gegen chemische Anziehung ist, einführen. Man kann, wie ich glaube, nicht umhin anzunehmen, daß sie Energieformen, für die unsre Sinne nicht angepaßt sind, zu chemischer Arbeit auszunutzen vermögen. Dadurch unterscheiden sie sich von allen echten Pflanzen und Tieren.

Schon lange wußte ich, daß die abnorme geistige Veranlagung Deiner jüngeren Tochter Dir und den Deinigen schweren und anhaltenden Kummer verursacht. So schwer der Entschluß auch fällt, solche Kranke einer Anstalt zu übergeben, so ist doch schließlich deren Entfernung notwendig, wenn die Familie ihnen nichts Wesentliches mehr zu bieten vermag und wenn sie das häusliche Leben dauernd stören. Der allgemeine Druck auf die Stimmung || wird freilich durch die Entfernung nicht gehoben, wohl aber fallen die zahlreichen einzelnen kleinen Störungen und Aergernisse weg, welche das verkehrte Verhalten der Kranken mit sich bringt. – Die Kränklichkeit Deiner Frau bleibt freilich eine schwere Sorge.

Ob Dein Buch, außer der Biographie, wirklich Dein letztes ist? So recht glaube ich noch nicht daran. Freilich, was man nach dem 70. Lebensjahre noch tut, pflegt so etwas wie Feierabendsarbeit zu sein.

Meine Berufstätigkeit habe ich niedergelegt und bin seit dem Herbste nur noch Privatgelehrter. Die Arbeit geht jetzt langsamer als früher, aber an den Korrekturen merke ich doch, daß allerlei Kleinigkeiten nebenher abfallen, wenn auch der Abschluß größerer Spezialuntersuchungen noch viel Zeit erfordert. Ich versuche, noch etwas von meinema angehäuften Material zu verwerten. Du mußt aber in Deiner Freundlichkeit nicht meine Lebensarbeit neben der Deinigen nennen. Da ist der Unterschied doch allzu groß.

Es gedenkt Deiner in herzlicher Freundschaft

Dein W. O. Focke.b

a korr. aus: dem; b Text weiter am linken Rand von S. 1: Es … Focke.

Brief Metadaten

ID
1883
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
09.03.1905
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
11,4 x 18,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1883
Zitiervorlage
Focke, Wilhelm Olbers an Haeckel, Ernst; Bremen; 09.03.1905; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_1883