Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 26. Dezember 1893

Bremen, 26. Dezb.1893.

Mein lieber Freund!

Im Oktober d. J. hoffte ich, Dich in Jena aufsuchen a oder richtiger besuchen zu können, kam aber leider einige Tage zu früh. Die Tochter, welche ich bei Dir einführen wollte, hast Du inzwischen gesehen, und bin ich Dir für die ihr erwiesenen Freundlichkeiten sehr dankbar. Sie ist zurückhaltender und Fremden gegenüber ernster als ihre Vorgängerin in meiner Töchterreihe, die heitere gemütliche Willie, aber sie faßt gut auf und geistige Anregung ist bei ihr wohl bewandt. ||

Hoffentlich geht es Dir und den Deinigen gut, so daß Du mit frohem Mute in das nächste Jahr hineintreten kannst. In Gedanken an meinen Sohn, von dem ich in etwa 14 Tagen einen Brief aus Singapore erwarte, habe ich Deine Indische Reise wieder in die Hand genommen, da der erwartete Briefb und nun die Fahrt von Suez an schildern wird. Mein Sohnc tritt in ein Geschäft in Honkong. Mit großer Freude habe ichd mich in Deine Schilderungen vertieft, obgleich mein Sohn weder Bombay noch Ceylon berührt.

Seit mehreren Monaten, oder eigentlich seit Ausbruch der Hamburger Cholera-Epidemie, bin ich so sehr durch Berufsarbeiten in Anspruch genommen gewesen, daß ich kaum dazu gekommen bin, etwas Naturwissenschaftliches zu lesen || oder gar selbst zu arbeiten. Eine hübsche Beobachtung über Rückschläge an einer hybriden Birne habe ich machen können; der Fall scheint mir den berühmten Darwin’schen Streifungen bei Bastardpferden ganz analog zu sein. Gelegentlich komme ich wohl dazu, eine Mitteilung darüber zu veröffentlichen.

Die mir freundlichst zugesandte Arbeit über die Phylogenie der australischen Fauna habe ich, wie so vieles Andere, noch nicht eingehender studieren können, habe aber kürzlich in die beiden ersten Abschnitte hineingeblickt. Die Erscheinungen der Vererbung erscheinen uns immer noch als äußerst capriciös, ein Zeichen, daß wir die eigentlichen Ursachen oder wenigstens das Ergebnis aus dem Kampfe entgegengesetzt wirkender Ursachen || noch nicht zu übersehen vermögen. Die älteste Stammeseigentümlichkeit der Mammalien, die Säugefähigkeit, ist bei den Kulturvölkern im Verschwinden begriffen, während ein nebensächliches anatomisches Gebilde, das Hymen, sich beim Menschen entwickelt hat und sich stets von neuem entwickelt, obwohl es vor der Konzeption regelmäßig zerstört wird. Verstümmelungen vererben sich beim Menschen nichte und anatomische Merkmale anderer Art werden im Laufe des individuellen Lebens nicht erworben. Dagegen werden erworbene körperliche Fähigkeiten, d. h. Kombinationen der Thätigkeit bestimmter Muskelgruppen, allerdings vererbt, bedürfen jedoch, um sich zu erhalten, eine in früher Kindheit beginnende Uebung.

Und nun, ein herzliches Glückauf für das kommende Jahr

von Deinem

Wilh. O. Focke.

a gestr.: z; b eingef. mit Einfügungszeichen: erwartete Brief; c gestr.: Er, eingef.: Mein Sohn; d korr.: aus: in; e eingef. mit Einfügungszeichen: nicht

Brief Metadaten

ID
1871
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
26.12.1893
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1871
Zitiervorlage
Focke, Wilhelm Olbers an Haeckel, Ernst; Bremen; 26.12.1893; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_1871