Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 9. Mai 1871

Dr. W. O. Focke,

Altenwall 4.

Bremen.

Bremen, 9 Mai 1871.

Lieber Freund!

Schon seit längerer Zeit hatte ich die Absicht Dir ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, doch habe ich in letzter Zeit absichtlich gewartet, weil die Kunde zu mir drang, daß Du eine Frühjahrsreise nach Dalmatien unternommen habest. Ich denke mir, daß Du jetzt zurückgekehrt sein wirst, hoffentlich mit reicher Ausbeute. Wenn ich recht berichtet bin, so hat sich im Laufe des Winters Deine Familie um ein Töchterchen vermehrt. Der gleiche Fall ist bei mir eingetreten, || so daß ich jetzt schon von drei kleinen Töchtern umgeben bin.

Während der Kriegszeit und des ganzen vorigen Winters gab es für mich ziemlich viel ärztliche Arbeit und bin ich daher wenig zu naturwissenschaftlichen Studien gekommen. Kürzlich habe ich Dir einen Aufsatz zugeschickt, in dem Dich vielleicht die Ansicht interessieren wird, daß ein beträchtlicher Theil unsrer mitteleuropäischen Flora (natürlich verhält es sich mit der Fauna ebenso) aus den Nachkommen miocäner Polarpflanzen besteht. Ich möchte Zeit haben, die Sache weiter nachzuweisen, da das betreffende Material sehr umfangreich ist. Es hängt damit die Frage von dem angeblichen Migrationsgesetz der Organismen || zusammen und glaube ich nachweisen zu können, daß die Artenbildung im Pflanzenreich wesentlich auf andere Factoren zurückgeführt werden muß.

Beifolgend schicke ich Dir eine Notiz über eine Idee, die ich schon vor einer längeren Reihe von Jahren faßte. Wiederholt dachte ich daran, die Sache anzuregen, doch fürchtete ich Bekanntes vorzubringen. Bei der Lectüre von Darwin’s neuestem Werke fiel mir ein, daß die Sache doch wohl noch nicht so dargestellt worden sein könne, wie ich sie ansehe. Dies ist die Veranlassung, weshalb ich Dir diese Notiz auf beifolgendem Blatte einsende.

Mein Bruder, der Dir noch wohl durch seine Blödigkeit in Jena erinnerlich sein wird, hat den Feldzug als Leutnant glücklich mitgemacht und || langweilt sich jetzt in einem französischen Dorfe in der Nähe von Sedan.

Von mir weiß ich Dir in Kürze auch recht wenig zu erzählen. Als Medicus practicus vegetirt man so weiter und wenn man nicht so organisirt ist, um sich große Illusionen über seine segensreiche Wirksamkeit zu machen, so ist die tägliche Arbeit eben nur durch die Gewohnheit erträglich. Ich wollte, ich fände irgend ein Arbeitsfeld, welches mir einige freie Zeit läßt und es mir möglich macht, auf die Praxis zu verzichten. Für nächsten Winter bereite ich mich auf einen Cyclus von Vorlesungen vor.

Bitte empfiehl mich Deiner Frau und erinnere Dich zuweilen

in alter Freundschaft Deines W. O. Focke.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
09.05.1871
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1848
ID
1848