Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 28. November 1868

Bremen, 28 Novemb. 1868.

Lieber Freund!

Beifolgend übersende ich Dir einen Aufsatz nebst einem kleinen Anhängsel für die Jenaische Zeitschrift vorausgesetzt, daß Du diese Arbeiten brauchen kannst. Es sind einige vorläufige Früchte von Rubus-Studien darin niedergelegt. Ich nahm in den letzten Jahrena meine Beschäftigung mit dem Genus spinosissimum Ruborum wieder auf b in der vorgefaßten Meinung, daß sich bei diesen Gewächsen eine große Plasticität der Arttypenc finden müsse. Die nähere Untersuchung führte aber zu ganz andern Ergebnissen: die in hohem Grade variabeln Formen sind sämmtlich einfache Hybride; die Typen, welche zahlreiche Lokalformen aufzuweisen haben, sind wahrscheinlich größtentheils Racen hybriden Ursprungs; d die offenbar reinen Arten sind keineswegs besonders variabel. Diese vorläufigen Resultate bedürfen einer Controlle durch das Experiment, aber erst nach einer Reihe von Jahren darf ich hoffen, diee obigen Ansichten auf experimentellem Wege entweder fest begründen oder modificiren zu können. Wenn nun auch die anfängliche Vermuthung, daß sich unter den Brombeeren viele ungewöhnlich biegsame Arttypen finden würden, || sich nicht als zutreffend erwiesen hat, so muß doch jedes Specialstudium einer einzelnen Artengruppe, sobald es sich nicht auf eine Lokalflora beschränkt, zu Aufschlüssen über die Entstehungsgeschichte der Arten führen. In den beifolgenden Aufsätzen habe ich ein paar Proben davon gegeben; für weitere Nachweise fehlt mir nur noch das Material, namentlich die lebenden Pflanzen. Allmälig gelingt es mir aber wohl, allerlei zu erhalten.

Was ich über Treviranus schreiben wollte, beschränkt sich wesentlich auf einige von mir gesammelte Stellen aus seiner Biologie. Trev. entwickelt darin seine monistische Anschauungsweise so klar und bestimmt, daß es keines ausführlichen Commentars zur Erläuterung derselben bedarf. Da diese Ansichten vor dem Erscheinen der Hauptwerke von Lamarck und Oken publicirt wurden, so verdient Trev. gewiß als einer der frühesten Anhänger der Entwickelungstheorie neben jenen beiden großen Naturforschern, so wie neben Göthe u. Erasmus Darwin genannt zu werden. Einige seiner Aussprüche sind höchst merkwürdig. – Jedenfalls möchte ich diese Auszüge aus Trev.f Schriften mit meinen Anmerkungen in nächster Zeit publiciren; da aber diese kleine Arbeit wegen der Persönlichkeit von Treviranus auch ein gewisses lokalbremisches Interesse hat, so wird ihre Aufnahme in die Abhandlungen des hiesigen naturwiss. Vereins gewünscht. Ich möchte Dich daher bitten Deine Ansprüche an dieselbe gegen die beifolgenden Aufsätze abzutreten.

Als ich im vorigen Frühjahr in der Schweiz umherstreifte, || erregte keine Pflanzengruppe so sehr meine Aufmerksamkeit, wie die Primeln der P. veris Gruppe. Wenige Wochen später erschien Darwin’s Arbeit über dieselben, deren Resultate größtentheils mit den Ansichten zusammentrafen, die ich durch Beobachtung im Freien gewonnen hatte. Ich habe indeß noch mehr gesehen, als Darwin in England zu sehen Gelegenheit hatte, und wünsche ich sehr, einige Hybridisationsversuche zu machen. Im Frühjahr werde ich nach verschiedenen Orten schreiben um lebende Pflanzen zu erhalten.

Was sagst Du zu Darwin’s Pangenesis? Es ist das betreffende Capitel ein wunderlicher Schluß eines außerordentlich inhaltreichen Buches. Mir kommt hier in unsere Ecke die Tagesliteratur nur theilweise und meist verspätet zu Gesicht, daher habe ich noch nirgends eine Besprechung dieser ebenso seltsamen wie unfruchtbaren Hypothese gefunden. Es ließe sich Manches darüber sagen, und man muß doch einmal g für die weniger Einsichtigen darauf hinweisen, daß die Annahme der Pangenesis-Hypothese keineswegs die nothwendige Consequenz der Descendenz-Lehre ist.

Die Jenaische Zeitschrift bekomme ich hier leider nicht zu Gesicht. Sie ist unserm naturwissenschaftlichen Verein schon seit längerer Zeit versprochen worden, aber noch nicht eingetroffen und bitte ich Dich daher unsrer freundlichst gedenken zu wollen.

Deine alte Reisegefährtin, die Korbflasche, wird wieder in Deinen Händen sein, vorausgesetzt daß Bruder Soldat sie nicht || noch auf Lager genommen hat. Ich werde mich nächstens danach erkundigen.

Deiner Frau und Deinem Neugeborenen geht es hoffentlich gut und wirst Du an dem Sprößling und seiner sich entwickelnden Intelligenz gewiß viele Freude haben. Ein zweimonatliches Kind ist gar nicht mehr so dumm, wie man beim ersten Anblick glaubt.

Von meinem jetzigen Leben weiß ich Dir nichts Besonderes zu berichten, als daß es mir im Allgemeinen gut geht. Neuigkeiten habe ich auch nicht zu erzählen. Ich arbeite jetzt an Vorträgen, die ich in den nächsten Monaten zu halten gedenke; viel Zelt lassen mir trotz der unbedeutenden Praxis, die regelmäßigen Geschäfte, die ich übernommen habe oder gelegentlich übernehmen muß, nicht übrig. Falls Du die beifolgenden Manuskripte nicht für die Zeitschrift benutzest, erbitte ich mir dieselben gelegentlich zurück.

Mit herzlichem Gruße und in alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

Altenwall 4.

a eingef. mit Einfügungszeichen: in den letzten Jahren; b gestr.: wol; c korr. aus: Formen; d gestr.: und; e korr. aus: diese; f korr. aus: den; g gestr.: darauf

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
28.11.1868
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1845
ID
1845