Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Oslebshausen bei Bremen, 1. Juli 1867

Oslebshausen bei Bremen,

d. 1 Juli 1867.

Mein lieber Freund!

Mit aufrichtiger Theilnahme und Freude hat mich die Nachricht von Deiner Verlobung erfüllt; es ist gewiß gut, daß Du Dich jetzt zu diesem Schritte entschlossen hast, der zur Sicherung Deines künftigen Lebensglückes doch einmala nothwendig war. Ich zweifle nicht, daß Deine Wahl eine treffliche ist, und wünsche von Herzen, daß Deine Verbindung mit Deiner Braut eine Quelle wahren und beständigen Glückes für Dich sein möge. Deinen Verlobungstag werde ich gewiß nicht vergessen, ich feierte an jenem Tage das Jahresfest meiner Verheirathung. Meine Frau bittet dringend um ein Bild von Deiner Braut; sie interessiert sich nach meinen Erzählungen für Dich wie für einen alten Bekannten, und hofft unsre hiesige Gegend werde sich binnen weniger Wochen in die schönste Europa’s verwandeln, damit Du Dich veranlaßt siehst Deine Hochzeitsreise hierher zu lenken.

Im vorigen Herbste hatte ich einen langen Brief an Dich geschrieben, den ich einem Landsmanne, der nach Jena ging, || mitgeben wollte, als ich erfuhr, daß Du schon nach Madeira abgereist seist. Jener Landsmann, Chr. Lürssen, wird sich Dir inzwischen wol selbst vorgestellt haben, er ist ein bescheidener, sehr strebsamer Mensch, Sohn unbemittelter Eltern, der sich durch Fleiß, Fähigkeiten und Eifer den Weg bis zur Universität selbst gebahnt hat. Seit Ostern studirt auch ein Vetter von mir, Namens Toelken in Jena Medizin; er ist ein guter Junge, seinem Vater bin ich in vielfacher Hinsicht zu Dank verpflichtet.b – Ueber meine Lebensschicksale kann ich Dir in wenigen Worten berichten. Am 15ten Juni v. J. fand, wie erwähnt, meine Hochzeit Statt; während des Krieges machten wir eine herrliche Reise durch einen Theil der Schweiz. Seit 14 Jahren hatte ich das Berner Oberland nicht gesehen und fand dort Mancherlei verändert, besonders auch die unteren Enden der Gletscher, welche gewaltig abgeschmolzen waren. Die Gletscher und Nordabhänge der Walliser Kette fanden wir dagegenc in stetem Wachsen begriffen, eine auffallende Erscheinung, für welche die gewöhnliche meteorologische Erklärung der Veränderungen an den Gletschern kaum ausreichen dürfted. Verändern hohe Gebirgsketten ihre absolute Höhe eben so langsam wie die Küstensäume, oder können sie rascheren und merklicheren Schwankungen unterworfen sein? Diese Frage scheint mir einer Untersuchung immerhin werth zu sein. – Meine Ehe ist eine sehr glückliche, meine Frau ist gesund an Leib und Seele und hat || ein prächtiges tiefes Gemüth. Im letzten Frühjahr kamen ernstere Tage, in denen sie sich eben so wie bei allen andern Gelegenheiten, trefflich bewährte. Nach langem Angegriffensein wurde ich durch die ersten Kranken, welche ich an exanthematischem Typhus behandelte, angesteckt, mein Zustand soll einige Tage recht bedenklich gewesen sein. Langsam habe ich mich erholt und bin jetzt noch zur Stärkung meiner Kräfte auf dem Landsitze meiner Mutter. Mein Zustand ist jetzt sehr befriedigend, mein Leben ein angenehmes dolce far niente, aber meine Kräfte haben sich noch nicht recht wieder eingefunden und Anstrengungen rächen sich leicht durch eine nachfolgende Unpäßlichkeit. Vor sechs Wochen beschenkte mich meine Frau mit einem Töchterchen, welches jetzt hier auf dem Lande wohl gedeiht und welches mir viel Gelegenheit zu psychologischen Beobachtungen giebt. Vier Wochen hoffe ich noch meiner Gesundheit leben zu können und denke dann wieder arbeitsfähig zu sein.

Dein großes Werk habe ich mit vielem Interesse – freilich nicht gelesen aber auch nicht blos durchblättert; manche Abschnitte habe ich wirklich studirt. Der Gedanke das gesammte Material der organischen Wissenschaften nach den Prinzipien der neuen Darwin’schen Naturanschauung darzustellen ist großartig und kühn; Deine Arbeitskraft, mit || der Du den ungeheuren Stoff bewältigt hast, ist wirklich bewundernswerth. Meiner innersten Ueberzeugung nach gehört Deiner Anschauungsweise im Ganzen und Großen die Zukunft; im Einzelnen enthält Deine Arbeit die Grundlagen, von denen aus sich die Ansichten weiter entwickeln werden. Für die übersandten genealogischen Tafeln meinen besten Dank; über die zoologischen Stammbäume steht mir kein Urtheil zu, dagegen will ich nicht verschweigen, daß ich mir die historische Entwicklung des Pflanzenreiches etwas anders gedacht habe, als Du sie dargestellt hast. Die Pilze scheinen mir ein besonderer Stamm zu sein, der sich durch seine Ernährunge mittelstf organischen Stoffes von den andern Vegetabilien unterscheidet und sich von den primitiven Algen-Flechten abgezweigt hat. Die Algen und Flechten scheinen mir zwei Parallelreihen darzustellen, in der Art, daß man die Algen als Wasserflechten oder die Flechten als Luftalgen bezeichnen könnte. Für die höheren Flechten gab es zwei Wege der weiteren Entwickelung, nämlich 1.) eine Gliederung der vegetativen Organe, 2) Anpassung der Organe, namentlich auch der sexuellen, an das Luftleben. Die Kryptogamen haben sämmtlich Fortpflanzungsorgane, die auf das Leben im Wasser oder doch im Nassen berechnet sind; die phanerogamische Befruchtungsweise eignet sich nur für das Luftleben. So entstanden durch Weiterentwickelung der Algenflechten Parallelformen kryptogamischer und phanerogamischer Gewächse, von denen sich die letzteren besonders einer mannichfaltigen und formenreichen Entwickelung fähig zeigten. ||

Die niederen Phanerogamen stehen in ihrer Organisation, abgesehen g von den Blüthen, viel tiefer als die Farne und selbst die Moose, so daß man sie schwerlich aus einem gemeinsamen Stamme mit diesen höheren Kryptogamen herleiten kann.

Als ich mich im vorigen h Frühjahr viel im Freien zu bewegen suchte, ohne daß ich meinen Garten verlassen konnte oder zu ernsten Beschäftigungen fähigi war, habe ich meine Aufmerksamkeit häufig den keimenden Pflänzchen zugewandt und mich namentlich über die Verschiedenheit der keimenden Individuen einer und derselben Art gewundert. Die Variationen sind schon an den Samen größer als man denkt; bei wenigstens einem Dutzend Arten habe ich das Vorkommen von drei Cotyledonen statt zweier an einigen oder mehreren Exemplaren beobachtet, namentlich scheinen hybride Gewächse zu dieser Abänderung geneigt. Ich komme mehr und mehr zu der Ansicht, daß viele hybride Pflanzen sich unverändert durch Samen fortpflanzen und Anlaß zur Entstehung einer neuen Art geben können; es wird mir, glaube ich, möglich sein in manchen Fallen Beweise für meine Vermuthung zu liefern. Es ist neuerdings häufig vergessen, daß Linné schon eine Theorie über die Entstehung der Arten aufstellte, die er sich durch hybride Befruchtung der ehemaligen Genus-Typen, also durch eine Art der Differenziirung der Gattungen, zu erklären suchte. Linné blieb durchaus nicht bei dem Species tot sunt etc. stehen, nur seine geistlosen Nachfolger || thaten es. Neuerdings haben einige Vertheidiger des alten Speciesbegriffes gemeint, nach Erkennung und Ausmerzung der Bastarde würden die scheinbar sich vermischenden Grenzen der Arten wieder scharf und klar hervortreten. Den Botanikern lag es nahe auf die Gattung Salix als Beispiel hinzuweisen. Das neueste Werk von Anderson über die Weiden, von dem der erste Theil erschienen ist, zerstört solche Illusionen so gründlich wie möglich, obgleich ich in dem ganzen Werke bis jetzt nicht einmal eine Anspielung auf die Descendenztheorie gefunden habe. Das Buch selbst zeigt indeß klar, wie z. B. die wenig veränderte Stammform zahlreicher Weidenarten noch jetzt auf den atlantischen Inseln fortlebt, wie die amerikanischen Formen großentheils Modificationen europäischer Typen sind u.s.w.

Dein Bericht über Deine letzte Reise, für den ich Dir sehr dankbar bin, hat mir Deine Erlebnisse während des letzten Winters vergegenwärtigt. Es war gewiß eine vielfach interessante Zeit, wenn auch nicht mit Deiner früheren italienischen Reise zu vergleichen. Es giebt viele Flecke auf der Erde, die ich gern einmal sehen möchte, zu denen, an die ich am häufigsten denke, gehören die Inseln im atlantischen Ocean. In diesen Tagen hat mich Hooker wieder daran erinnert, der kürzlichj eine interessante Abhandlung über die Inselfloren geschrieben hat. ||

Doch ich fürchte Dich mit meinen Plaudereien zu ermüden; Deine Zeit ist jetzt ohne Zweifel sehr in Anspruch genommen, denn was nicht der Wissenschaft gehört, mußt Du der Braut widmen. Meine Aufgabe ist jetzt das Nichtsthun und so kann ich es denn schon wagen Dir einen Brief zu schreiben auf die Gefahr hin, daß er gar nicht gelesen wird. Meine süße Frau und mein liebes Kindchen nehmen jetzt meine meiste Zeit in Anspruch; übrigens setze ich gelegentlich meine Beobachtungen über die hiesige Flora, über die Brombeeren und über hybride Pflanzen fort, in so weit keine Bücher dazu erforderlich sind, vor denen ich noch eine gewisse Scheu habe. Die Brombeeren haben mich zum Studium der Bastardpflanzen genöthigt, welches letztere sich äußerst ergiebig erweis’t. Falls meine Kräfte es erlauben und Frau und Kind mich hier nicht zu sehr festhalten, mache ich in diesem Sommer vielleicht noch eine kleine Excursion nach Norden oder Süden, da ich doch jetzt einmal so lange meinen Beruf versäumt habe.

Nun will ich aber wirklich schließen; über gemeinsame Freunde und Bekannte schreibe ich Nichts, weil Dir die Näherstehenden selbst kürzlich geschrieben haben werden, und weil ich hier auf dem Lande wenig erfahre. Meine Frau bittet mich Dich und Deine Braut unbekannter || Weise zu grüßen und Euch zu Eurer Verbindung Glück zu wünschen. Wenn man sich selbst so glücklich fühlt, wie wir es mit einander sind, so wünscht man Andern und namentlich den Freunden, von Herzen gern das Gleiche. Mit der Bitte zuweilen einen Augenblick freundlich meiner zu gedenken und Deiner lieben Braut ein empfehlendes Wort über mich zu sagen grüßt Dich

in alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

a eingef. mit Einfügungszeichen: doch einmal; b eingef. mit Einfügungszeichen: seinem Vater … verpflichtet.; c eingef. mit Einfügungszeichen: dagegen; d korr. aus: dürften; e korr. aus: St; f korr. aus: von; g gestr.: , h gestr.: Jah; i korr. aus unfähig; j eingef. mit Einfügungszeichen: kürzlich

Brief Metadaten

ID
1840
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Oslebshausen
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Freie Hansestadt Bremen
Datierung
01.07.1867
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
14,0 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1840
Zitiervorlage
Focke, Wilhelm Olbers an Haeckel, Ernst; Oslebshausen; 01.07.1867; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_1840