Focke, Wilhelm Olbers

Wilhelm Olbers Focke an Ernst Haeckel, Bremen, 22. April 1863

Bremen, d. 22 April 1863.

Mein lieber Freund!

Es hat freilich etwas lange gedauert, bis ich eine Antwort von Dir erhalten habe; allein ich wußte wol, daß ich keine Ansprüche an das erste Ehesemester machen konnte und daß Deine junge Gattin alle irgend verfügbare Zeit mit Beschlag belegen würde. Schließlich wurde ich durch Deinen lieben Brief um so angenehmer überrascht und erfreut, je weniger ich ihn gerade jetzt erwartet hatte. Für Dein wohlgelungenes Conterfei, Deine Reiseschilderungen und den übrigen mannichfaltigen Inhalt Deines Schreibens meinen herzlichen Dank; Deiner Frau Gemahlin fühle ich mich besonders verpflichtet wegen der darauf verwandten Zeit, die doch ihr gehörte. Dein häusliches Glück leuchtet aus vielen kleinen Zügen Deines Briefes so unverkennbar hervor, daß man in der That beinahe Sehnsucht bekommen könnte Dir das Heirathen nachzumachen. Ich bin jetzt im Genusse einer ausgedehnten Praxis, die aber leider außer manchen andern Unannehmlichkeiten den wunderlichen Fehler hat sehr wenig einträglich zu sein. Daher || kann ich auch den richtigen Tact Deiner liebenswürdigen Cousinen nur meine aufrichtige Anerkennung zollen, wenn sie es vorziehen nicht auf mich und eine dermaleinstige Vermehrung meiner Einkünfte zu warten, die mir erlauben würde mich nach einer Lebensgefährtin umzusehen. Sämmtliche junge Mädchen, welche sich a umsichtiger Weise vorher anderweitig verloben und verheirathen, haben daher unbedingte Ansprüche auf meine volle Bewunderung. Falls ich voraussetzen könnte, daß es sie interessierte, würde ich Deiner Cousine Frln. Sethe, zu ihrer Verlobung von Herzen Glück wünschen, wobei ich übrigens nicht unterlassen würde hinzuzufügen, daß die Gründe meiner speciellen Hochachtung nicht einzig und allein die eben entwickelten seien. Beiläufig bemerkt überraschte mich die Nachricht von ihrem Brautstande durchaus nicht, wie Du zu glauben Dir die Miene giebst, b – ich habe damals manches Wort mit ihr gesprochen, und es ist nicht eben schwierig zu unterscheiden, ob ein Herz schon durch die Liebe erzogen ist oder nicht.

Doch genug davon; das Scherzen will noch nicht recht wieder in Gang kommen, nachdem mir kürzlich der Ernst des Lebens einmal recht nahe getreten ist. Am letzten März ist mir nach 3tägiger Krankheit eine liebe Schwester gestorben, ein Mädchen, durch klares || Urtheil und sinnige Denkweise eben so ausgezeichnet, wie durch Herzensreinheit und rührende Anspruchslosigkeit. Eine allgemeine Peritonitis führte ihr rasches Ende herbei; die Krankheit ging, wie die Section ergab, von einer latent verlaufenen Ulceration des durch einen Kothstein verstopften Wurmfortsatzes aus, die das Bauchfell perforirt hatte.

Uebrigens weiß ich Dir aus meinem Leben im verflossenen Winter nicht viel Merkwürdiges mitzutheilen. Ich habe meistens viel zu thun gehabt, wenigstens so viel um meine Kräfte völlig in Anspruch zu nehmen und mich zu anderweitigen Arbeiten so gut wie unbrauchbar zu machen. Es ist das eigentümliche Zusammenwirken von physischer und geistiger Abspannung, was schon nach im Grunde mäßigen Anstrengungen die selbstthätige Arbeitskraft lähmt. – Außerdem habe ich im verflossenen Winter ziemlich viel Gesellschaften und Bälle mitgemacht und nebenbeic oder nachher auch oft und lange in der Kneipe gesessen, d so daß diese Arten von Anstrengung eine Art Gegengewicht gegen die Last der Berufsgeschäfte bildeten, was auch durchaus nothwendig war um nicht geistig zu verkommen. Nie habe ich früher so viel Thorheiten auf Bällen getrieben wie im verflossenen Winter; der Unsinn eines Abends wurde oft am andern Tage in Versen und || Zusendungen, ja bis in die Lokalblätter hinein, fortgesetzt, bis ein anderer Ball wieder andre Beziehungen und andern Blödsinn auf den Damm brachte.

Meine naturwissenschaftlichen Studien sind unter diesen Umständen ziemlich gering ausgefallen. Ein paar Vorträge, die ich im vorigen Winter hielt, bezogen sich zufällig auch auf andre Dinge, einer handelte über die Ortsnamen der Umgegend von Bremen, der zweite über die wissenschaftliche und die dichterische Auffassung des Wahnsinns; ein kleiner Journalartikel war ebenfalls psychiatrischer Art. – In Zukunft will ich übrigens meine freie Zeit nicht mehr so zersplittern und mich mehr auf ein paar Hauptaufgaben concentriren. Die Ortsnamen stehen übrigens doch in genauer Verbindung mit meinen geognostisch-geographischen Untersuchungen. – Mit der Darwin’schen Theorie habe ich mich durch Lectüre des Originalwerkes schon im Anfang des Winters bekannt gemacht. Ich glaube allerdings, daß von Darwin ein Weg angedeutet ist, durch dessen Verfolgung die Wissenschaft wichtige Fortschritte zu machen fähig sein wird, allein ich kann mir auch nicht verhehlen, daß die von Darwin vorgetragenen Ursachen allein nicht e genügend sind die Thatsachen zu erklären. Man muß neue morphologische und physiologische Gesetze in der organischen Welt aufsuchen und der Reiz von D.’s Werk liegt für mich hauptsächlich darin, daß es zeigt, wie so viel Naheliegendes übersehen ist. ||

Eine Frage, welche meine geognostischen Studien berührt, ist die nach der ehemaligen Gestaltung der Ostsee und ihrer Verbindungen mit anderen Meeren. Die Vergleichung der Faunen der Nordsee, Ostsee, des weißen Meeres, der großen schwedischen und finnischen Seen scheint interessante Andeutungen zu geben, die ich aber bei meinen geringen geologischen Kenntnissen noch nicht verfolgen konnte. Die lokale Abänderung scheint bei einzelnen Arten hier sehr auffällig zu sein. – Besser verstehe ich mich auf botanische Beispiele; eins der merkwürdigsten gebenf die von Neilreich besonders hervorgehobenen Abänderungen, welche Pflanzen der Kalkalpen auf den Granitalpen zeigen, und welche man gewöhnlich als getrennte Arten auffaßt. Die Gattungen Salix, Mentha, Rubus, Orobanche, Betula u.s.w., so wie einzelne Gruppen von Juncus, Scirpus, Carex, Poa u. manche andere fordern zu Untersuchungen dringend auf. Mit Rubus bin ich, wie Du Dich vielleicht erinnerst, schon seit Jahren beschäftigt. Vieles läßt sich aus der Annahme fruchtbarer Bastarde erklären, aber so weit ich jetzt die Sache überblicke, stimmen die Thatsachen mehr mit der Hypothese der Entstehung aus einer Stammart überein. Die specielleren Arten sind in einzelnen Gegenden ziemlich || constant, aber sie variiren auf größeren Strecken, und die Zwischenglieder zwischen zwei an einem Orte scheinbar scharf getrennten Species scheinen schon 100–200 Meilen entfernt lebend zu existiren. – So scheint es sich auch mit Epipactis zu verhalten. An vielen Orten, namentlich in Oberbaiern, habe ich Epipactis latifolia u. rubiginosa neben einander wachsen sehen. Die Blüthezeit der einen Art begann, als die der andern aufhörte, Zwischenformen oder Bastarde waren durchaus nicht zu finden, die Unterschiede waren scharf und unverkennbar. Die Halle‘schen Floristen vereinigen aber beide Arten u. es scheint, daß sich in dortiger Gegend keine Grenze zwischen diesen sonst so wohl characterisirten Species auffinden läßt. – Bei Cirsium u. Verbascum sind die häufigen Zwischenformen offenbar Bastarde, während sich dies von andern Gattungeng nicht sicherh behaupten läßt u. bei Salix z. B. schon zweifelhaft genug wird. Auch Epilobium u. Rumex sind ein paar schwierige Genera, die für die Theorie der natural selection sprechen könnten.

Doch genug davon, Du wirst Dich vermuthlich schon mehr mit diesen zweifelhaften Gattungen beschäftigt haben, als ich, und ich kann kaum hoffen Dir durch obige Daten, die mir im Augenblicke gerade einfielen, noch irgend welchen brauchbaren || Stoff anzudeuten, der ja doch in überwältigender Masse vorhanden ist. Nur ein genaues Specialstudium einer bestimmten Gattung kann indeß wirklich feste Grundlagen für theoretische Untersuchungen liefern. Im Laufe der Jahre bringe ich es vielleicht zu Ergebnissen über die Brombeeren; ichi amüsire mich inzwischenj über die Danaidenarbeit der Systematiker, denn während die Einen aufs Eifrigste bemüht sind neue Arten abzugränzen, sind Andere rastlos thätig alle diese Epigonenspecies auf einige Hauptarten zurückzuführen. Daß bei einer solchen geistlosen Systematisirung, um nicht zu sagen bureaukratischen Organisation, der Natur Nichts herauskommt, kann Jeder bei ein klein wenig Aufmerksamkeit auf dies schulmeisterliche Treiben leichtlich begreifen. In der Botanik führen jetzt die Unterofficiere und Wachtmeister das große Wort, indeß arbeiten sie fleißig und wenn einmal ein tüchtiger General kommt, wird er ihre Bemühungen schon zu verstehen wissen.

Seit die Vegetation sich wieder zu regen beginnt, habe ich angefangen wieder für das Herbarium unserer Umgegend zu sammeln und Land und Pflanzenwelt zu studiren. Leider fehlt die Zeit zu großen Excursionen und es ist unmöglich nach den meisten Richtungen hin || einen Ausflug von ein paar Meilen binnen der mir zu Gebote stehenden freien Zeit auszuführen. Unser Eins hat keine wirklichen Sonntage wie andre Leute.

Von unsern gemeinsamen Bekannten habe ich wenig gehört, nur Hartmann hat mir kürzlich ein paar Mal geschrieben. Er hat erfahren, daß hier von der Einrichtung eines zoologischen Gartens die Rede ist und wünscht Director desselben zu werden. Die Sache liegt leider noch in weitem Felde und das Zustandekommen des Unternehmens ist sehr fraglich; sonst würde mir die Aussicht Hartmann hier zu haben sehr angenehm sein.

Kottmeier war eben bei mir und läßt Dich freundlich grüßen; er sowohl wie Strube, Dreier und Horn fungiren hier als große praktische Aerzte. Keiner von ihnen denkt vorläufig ernsthaft an die Gründung eines häuslichen Herdes.

An einen Besuch in Jena kann ich im künftigen Sommer kaum denken. Wir sind sämmtlich sehr beschäftigt und können einander nicht viel aufbürden; ordentliche jüngere Collegen mangeln uns bisher. Sollte ich mich wider Erwarten doch frei machen, so schreibe ich Dir. Allmers habe ich seit Herbst nicht gesehen, er kommt nicht oft nach Bremen herauf und verkehrt dann nur mit dem Kreise seiner nächsten Freunde auf ein paar Stunden.

Hoffentlich findest Du bald einmal Zeit mir wieder zu schreiben und zwar nicht invita conjuge, was ich vermeiden möchte. Dem Wohlwollen Deiner liebenswürdigen Frau Gemahlin möchte ich mich nämlich noch speciell empfehlen.

In alter Freundschaft

Dein W. O. Focke.

Grüße auch Bezold, dessen neuestes Werk auf meinem Tische liegt, und gratulire zu seiner Verlobung.k

a gestr.: s; b gestr.: überrascht; c korr. aus: außerdem; d gestr.: welche; e gestr.: im Stand; f gestr.: Ab; g korr. aus: Arten; h eingef. mit Einfügungszeichen: sicher; i korr. aus: und; j eingef. mit Einfügungszeichen: inzwischen; k Text weiter am linken Rand von S. 8: Grüße … Verlobung.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.04.1863
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 1837
ID
1837