Franz Schaufenbühl an Ernst Haeckel, Weimar, 14. November 1911

HOTEL ELEPHANT WEIMAR

WEIMAR, DEN 14. November 1911.

Mein verehrter Herr Prof. Haeckel!

Kaum ist die Nacht verflossen – 12 Stunden – seit unseren ersten Abschied, so drückt mir schona das Gefühl des Dankes & Verehrung die Feder in die Hand, um meinen Eindruck gleich frisch festzuhalten:

Unser persönliches Kennenlernen war für mich eine meiner schönsten Ereignisse des Lebens! Diesen 13. November wollen wir daher vereint in ‚Ehren‘ halten. So stark ja das Persönliche wirkt von Mensch auf Mensch, so kannte ich Sie schon längst. Denn: „in der b Offenbarung Ihres Wahrheitstriebes, der durch alle Ihre Geisteswerke geht, habe ich Sie innerlich erfaßt als großen und edlen Menschen.“ Und diese Erkenntniß wurde gestern für alle Zeiten besiegelt. Ich ging nicht nur mit innerer Befriedigung von Ihnen, heute eine großen Menschen || gegenüber gestanden, c sondern mit der offenen Freude & dem Bewußtsein, einen ehrlichen Mannescharacter gefunden zu haben. Denn ich schätze die Wahrheit & Aufrichtigkeit eines Menschen zu den ersten & höchsten Tugenden der Rechtschaffenheit! Trotz unserer Bildung heute fast zur Seltenheitd „verartet“. Eine Tatsache der Erfahrung. Da ich gerade von der ‚Verartung‘ spreche, so möchte ich noch auf einige allgemeine Punkte zurückkommen, die wir gestern berührt.

„Ich will nicht untersuchen, ob bei der klassischen Kultur auf dem Schilde stand: „Kunst & Religion oder: Religion und Kunst.“?

Heute muß es heißen: „Wissenschaft und Kunst.“

Da will ich von vornherein bemerken, daß „leider“ die moderne Kunst neben den Errungenschaften der modernen Wissenschaft schwach & klein da steht, ganz im umgekehrten Verhältniß. Die modernen falschen Phropheten – || hauptsächlich in der Kunst – haben eine furchtbare Verirrung & Verwirrung heraufbeschwört & diese Tatsache ist für die aesthetische wie ethische Seite der Pädagogik von großer Tragweite. Dieser Schaden ist noch ganz unabsehbar. Man vergesse nie: „Das Volk ist sehr leicht empfänglich, sowohl für das Gute wie für das Schlechte (!) & falsche aesthetische Werthe verführen notwendig zu primitiven Gefühlen, jene Vorstufe zur Rohheit.“ Das Publikum steht heute der Kunst gegenüber wie zu allen Zeiten den Strömungen der Religionen. Es weiß nicht wohin, wo es mitgehen soll! Und hier muß ich eine weitere meiner überzeugenden Beobachtungen zum Ausdruck bringen: „daß der ‚Individualismus‘ von heute, die Achtung vor der inhaltlich-echten Autorität untergräbt!“ Darüber denke man ernstlich nach. Welches ist wohl die Ursache? Jeder will heute um jeden Preis „eine“ Meinung haben. Für mich geht die Ursache auf die Aufklärung der Allgemeinbildung zurück mit noche unsolidem Empfänger. Mit einigen revolutionären Reformphrasen brüstet sich heute schon die Allgemeinheit, ohne tiefere Erkenntniß des idealen Zieles ihrer Vorbilder. Ich ahne, daß ein Prophet nicht nur Anerkennung, sondern: „auch gleichestrebende & gleichgesinnte Nachfolger wünscht!“ Da komme ich an einen Punkt, verehrter Herr Haeckel, wo Sie vielleicht verneinend den Kopf wenden? Aber bitte, lassen Sie mich || noch etwas weiter reden: „Sie wissen es am besten, was es heißt, im Leben ein ideales Ziel zu erreichen! Was dazu für einen Willen & eine eigene persönliche Kraft braucht! Sie haben Ihr hohes Ziel erreicht! Aber wief viele Prozente der Allgemeinheit erreichen überhaupt ein ideales Ziel? Abgesehen von Ihrem Ziel, das ja eigentlich das wahre Vorbild ist!? Erst die Zukunft wird noch Vielen zeigeng, daß doch eben keine Erziehung fähig ist, die Allgemeinheit so zu erziehen, wie sich einzelne, große & edle Männer durch fortwährende Selbsterziehung & Ausbauung zum idealen Vorbild entwickelt haben. Ich glaube, wo allgemeine Ziele walten, leidet der befähigte Einzelne & diese Tatsache beweist jede Staatsepoche, wie qualvoll sich immer Einzelne ihr ideales, persönliches Ziel erkämpfen mußten. Jede Erziehung, jede Schule ist & bleibt doch nur der Wegweiser. Und am Ende kommt die Praxis des Lebens mit ihrem „gut & böse.“ Die Riesenzahl besitzt absolut zu wenig starken, eigenen Willen, den zeitraubenden Lüsternheiten zu entsagen, um sich der idealen Arbeit in der Einsamkeit zu opfern, woraus sich die schönsten & edelsten Früchte: die innere Befriedigung, bei Denker wie Künstler, entwickelt. ||

Die Richtigkeit meiner Anschauungen bestätigt die heutige moderne Kunst unzweideutig, welche aesthetische Werte man als echte & ideale, kurz: gesunde! der Allgemeinheit aufdrängt. Und niemand vermag diesen kranken, künstlerischen Individualismus aufzuhalten, der unbedingt zum Niedergang der heutigen Kunst führt! Da sehen wir gerade den offenen Gegensatz (wie schon angemerkt): Der heutige Kampf der Wissenschaft gegen die Religionen will gesunde & natürliche Auffassung & Erfassung der Weltprobleme & Menschheitsideale! Wer aber nur einigermaßen inh die Geschichte jeder Kulturperiode mit offenen Augen eingeweiht ist, der weiß: „daß eine ideale, harmonische Einheit jeder Kultur (– im rechtschaffenden Sinne) nur mit Hilfe der großen, idealen Kunst zu erreichen ist, durch ein wechselseitiges Ergänzen der geistigen mit den künstlerischen Gefühlen.“ Wer mit Bewußtsein dieses Erkenntniß besitzt, der wird mit gedrückten Gefühlen i in die nächste Zukunft schauen. Ohne die diskrete, ideale || Kunst wird keine Kultur zu erziehen sein mit selbstloser Zufriedenheit.

Zum Schlusse wird man mir zugeben, daß heute die Politik eine zu große Rolle spielt mit seinem täglichen Anspruch an die Allgemeinheit. Wo bleibt da noch Zeit für die geistigen Interessen & die Kunst? Wann wird der Staat diese vernichtenden Tendenzen einsehen? Vielleicht sind diese enormen, stumpfen politischen Wälzereien am Ende doch traurige Descendenzformen unseres modernen Staatslebens.

Der tägliche Kampf um die Existenz steht heute ja unerreicht groß da und so lange noch immer „vom Zufall“ die Geburt alles Großen abhängt, so lange haben wir noch keine gesunde Kulturstufe erreicht. j Amen. ||

Jetzt noch die Entschuldigung dieses Briefes, der ja nahezu wie eine „Abhandlung“ ausgefallen. Ich mute Ihnen aber nicht zu, den Inhalt zu verschlingen; lassen Sie sich Zeit & wenn ich bald wieder nach Jena komme, so werde Ihnen mit Freude denselben vorlesen! Ich bin auch überzeugt, daß Sie heute, wie Sie mich persönlich kennen, ein größeres Interesse an meiner Person haben & diesen Brief als freundschaftliches Dokument in Ehren halten, zum Beweise unserer gegenseitigen Gesinnung. Unsere mündliche Aussprache zeigte mir deutlich, daß unsere Auffassungen über Kunst wie Wissenschaft in den Grundzügen übereinstimmen.

Vielen Dank für das geschenkte Buch! Empfangen Sie meine aufrichtige Teilnahme an ihrem körperlichen Beschwerden & ich hatte den festen Eindruck, daß Sie sich doch wieder gangfähig erholen, durch langsames Ausheilen & Kräftigung der Bruchstellen.

Ich habe den Wunsch, Sie bald wieder zu sehen!

Viele Grüße aus der alten Goethestadt

von Ihrem treuergebenen

Fr. Schaufenbühl

Bildhauer

[Beilage:]

Dem verehrten Herrn Prof. E. Haeckel zum Andenken an unsere erste persönliche Bekanntschaft am 13. November 1911 in Jena

Fr. Schaufenbühl

Bildhauer

NB. Die Karte zeigt vier plastische Werke von mir.

a eingef.: schon; b gestr.: wahren; c gestr.: zu haben; d korr. aus: Seltenheiten; e eingef.: noch; f korr. aus: viele; g korr. aus: feigen; h eingef.: in; i gestr.: d; j gestr.: Und man verzeihe mir, aber: „ich kann die Idee nicht fassen

Brief Metadaten

ID
18320
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
14.11.1911
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 18320
Beilagen
egh. gewidmete Ansichtskarte mit eigenen Werken von Schaufenbühl
Abbildungen
Signet Hotel Elephant Weimar: Elefant inmitten eines von einem Gürtel gebildeten Kreises
Zitiervorlage
Schaufenbühl, Franz an Haeckel, Ernst; Weimar; 14.11.1911; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_18320