Alexander Tille an Ernst Haeckel, Glasgow, 2. Januar 1894

10. Sardinia Terrace

Hillhead

Glasgow

2.1.94.

Hochverehrter Herr Professor!

Meinen allerherzlichsten Dank für Ihren freundlichen Gruss, und die herzlichste Erwiderung Ihrer Neujahrswünsche! Über die schönen Bilder mit Ihren Widmungsworten habe ich mich ausserordentlich gefreut. Der indische Reisende sieht doch ganz wesentlich anders aus als der deutsche Professor in der Schöpfungsgeschichte und der Philosoph auf dem grossen Gipsmedaillon im Hause Holmhurst, Dowanhill, Kelvinside, Glasgow. ||

Ich bin gerade mit Ernst Haeckel als Ethiker beschäftigt. Es ist ein Kapitel einer Geschichte der Entwicklungsethik. Das betreffende Kapitel in Williams‘ Evolutional Ethics‘ S. 23–28 ist nur sehr oberflächlich, während andere Teile des Buches sehr gut sind. Der Hauptpunkt, die aus der Entwicklungslehre neuzugewinnenden ethischen Anschauungen hat Williams leider fast ganz vernachlässigt. Er führt eine Schrift von Ihnen an, die ich nicht kenne „Relation of the Theory of Evolution in its present form to Science in General“ (1877). Im Kürschner, meinen naturwissenschaftlichen Ratgeber, steht der entsprechende deutsche Titel nicht aufgeführt, aber ein anderer, der mich sehr anzieht: „Über Arbeitsteilung in Natur und Menschenleben“. Haben Sie von diesen beiden noch einen Sonderabzug für mich? Ich wäre Ihnen dafür || sehr dankbar. Bei meinen gering entwickelten ‚altruistischen‘ Fähigkeiten, mache ich mit grosser Freude von Ihrem liebenswürdigen Anerbieten Gebrauch, dessen Gefährlichkeit Ihnen dadurch zugleich deutlich wird.

Ihren ‚Monismus‘ sah ich neulich hier bei einem englischen Philosophen. Da kann er ein gutes Werk thun. Die akademische Philosophie Großbritanniens steckt noch tief in Hegel. Hoffentlich erlebt der „Monismus“ bald eine neue Auflage. In den ehemals Bradlaughschen Kreisen scheint das kleine Buch viele Freunde zu haben.

Vor vier Jahren las ich hier einmal Köstings „Weg nach Eden“, das Exemplar des Herrn Rottenburg, das Sie ja gut kennen. Die Ideale dieses Buches sind noch ganz durch den Humanismus bestimmt. Die einzige Dichtung, die darüber hinausgeht, ist, wenigstens von denen, die ich kenne, Wilhelm Jordans || bestes Buch, die ‚Andachten‘ (1777)a. Das ist völlig darwinistische Dichtung. Es hat im Publikum keinerlei Anklang gefunden bis voriges Jahr – seitdem beginnt es, gut zugehen. Das ist Ihnen vielleicht interessant: auch in dieser Hinsicht ist also der Knoten gerissen, und die Zahl der Menschen, die auf diesem Boden ihre Erbauung suchen, ist stark im Wachsen begriffen. Das Gefühl schlägt bereits um zugunsten der Entwicklungslehre; das ist hier das Entscheidende und davon ist endlich eine Bewegung zu breiteren Schichten zu erwarten. Die Entwicklungslehre und ihre grundlegenden Sätze beginnen vielen schon ebenso heilig für ihr Gefühl zu werden, wie es einst die alten jüdischen Weltentstehungssagen gewesen sind. Der vermeintliche Kampf zwischen Wissen und Glauben wird zum Kampf zwischen Wissen und Un-||wissenheit. Dabei wird noch immer klarer werden, dass mythologische Vorstellungen keinerlei Monopol auf die Begleitgefühle der Heiligkeit und Erhabenheit haben, sondern dass diese Gefühle sich im Bewusstsein der Zeit ebenso gut an völlig andersartige Anschauungen hängen können. Ich besinne mich noch ganz deutlich auf die Andacht, die ich mit 17 Jahren bei der Lektüre von Büchners Kapitel über die Unendlichkeit des Stoffs in ‚Kraft und Stoff‘ empfunden habe, obwohl dieses Buch doch gewiss viel besser sein könnte.

Die Änderung des Gefühles, das sich im Bewusstsein einer gewissen Zeit mit gewissen Vorstellungen verbindet, ist von der bisherigen Geschichte des geistigen Lebens grausam vernachlässigt worden.

Eine ‚Geschichte des logischen Denkens‘, d. h. dessen Entwicklungsgeschichte, könnte || eines der heitersten, ernstesten und köstlichsten Bücher werden. In Karl Lamprechts historischen Arbeiten findet sich bereits eine ganz hübsche Materialsammlung dazu, wenn auch allenthalben verstreut. Das ist vielleicht das wichtigste Stück der „Phylogenie der Psyche“. Dem Buche fehlt bloss noch der Verfasser. Den zu finden, macht aber manchmal Schwierigkeiten.

Mit den aufrichtigsten Wünschen für das Neue Jahr

mit herzlicher Verehrung

Ihr

Dr. Alexander Tille

a eingef.: (1777)

Brief Metadaten

ID
18271
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Vereinigtes Königreich
Entstehungsland zeitgenössisch
Großbritannien
Datierung
02.01.1894
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
12,7 x 20,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18271
Zitiervorlage
Tille, Alexander an Haeckel, Ernst; Glasgow; 02.01.1894; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_18271