Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 5. Dezember 1898

Wien, 5. December 1898.

Hochverehrter Meister!

Ihr so lieber, vom 4. September datirter Brief, wurde mir, nachdem er wahrscheinlich im „Stein“ vier Wochen auf uns gewartet hatte, endlich am 2. Oktober in Wien zugestellt. Er sieht so recht aus wie Jemand, „der viel erzählen könnte, wenn er nur wollte.“ Und ich habe sogar den nicht unbegründeten Verdacht, dass er irgendwo und irgendwann in unberufene Hände gerathen und von fremden Augen || gelesen worden sei. Leider dürfte der „Marder“ nur eine – Köchin gewesen sein, wie die ausgeprägten Paradeis-Finger auf Seite 3 deutlich beweisen. Zwar könnte es auch Aprikosen-Marmelade gewesen sein – aber ich gebe den Tomaten mehr Chancen. Was wird sich die gute Seele bei der Lectüre dieses, mit naturwissenschaftlichen Terminen und den schönen Reminiscenzen Ihres Cambridger-Aufenthaltes gespickten Briefes wohl gedacht haben? Ich musste hell auf lachen, als ich mir, so beiläufig, in der Phantasie das Gesicht des weiblichen Marders vorstellte. –

Der November brachte uns dann den Separat-Abdruck Ihrer großartigen, in Cambridge gehaltenen Rede. Das war – nach Form und Inhalt, eine ganze || That, und, wenn ich bedenke, welch’ Wissen und welche Resultate in dieser klassisch-knappen Arbeit da niedergelegt sind – wenn ich mir den meisterhaften Aufbau betrachte, die herrliche Klarheit des Geistes, die sich Wort und Vorstellung von Innen heraus prägt und modelt, und auch nicht einen Beweis Alles dessen, was Ihnen Herzenssache ist, schuldig bleibt, dann, muss ich sagen, dass Sie geradezu ein Kunstwerk geschaffen! Glück auf!

Und Sie – Sie reden nur von Ihrer Feuerbestattung? Ach –! An den Rheumatismus glaub’ ich – und hab’ nun um noch Jemanden Angst – aber an Ihr Herz, dieses totbezwingende, herrliche Kämpferherz, || wird noch lange keine andere Flamme schlagen, als die der Begeisterung! Sowenig, als ich jemals – katholisch werde! Ja, das ist so mit ein recht netter Verdacht, in dem Sie mich zu haben scheinen. Nur weil ich in Woerishofen war? Aber diese Wunder haben ja doch nur mit meiner – Haut zu thun! Zur Strafe lass ich Ihnen darum noch vor Weihnachten eine kleine Arbeit, (in der hiesigen Wochenschrift „Die Wage“ erschienen, zugehen) damit Sie daraus erkennen, welch’ verkehrte Wunder Woerishofen an mir bewirkt. Und was mein verehrter Meister über diese Arbeit denkt, muss er mir schreiben; ja?

Wir haben uns, wie geplant, auf der Rückreise in Salzburg || aufgehalten, und zwar vom 26-31 August. Nur haben wir den „Stein“, nach schlimmen Erfahrungen auf der Hinreise, nicht mehr aufgesucht, sondern im Hôtel „Oesterr. Hof“ Quartier genommen, woselbst wir sehr zufrieden waren. Als ich heimkam erwarteten mich zwei angenehme Nachrichten, nämlich, dass meine zwei, zuletzt entstandenen Arbeiten, beide Dramen, vom hiesigen „Deutschen Volkstheater“ und vom Hofburgtheater zur Aufführung angenommen seien. Das „Deutsche Volkstheater“ will die Novität womöglich noch in dieser Saison bringen; das Burgtheater damit bis nach dem Engagementsantritt von Josef Kainz warten. || Der berühmte Schauspieler, der die Hauptrolle meiner Dichtung zum Sieg führen soll, hat mir darüber einen geradezu begeisterten Brief geschrieben! So Etwas gibt Flügel und Mut, und so arbeite ich denn bereits an einem dritten Drama.

Der „Moenchsberg“ und „Aigen“ lassen Sie grüssen; von der Kanzel haben wir Ihnen einen Gruß in blaue, blaue – Fernen geschickt! Das ist nun auch wieder so lange her – wie alles Schöne und das bischen Glück, das man auf diesen mühseligen Stern erleben darf! Prof. Müllner schüttelt Ihnen im Geiste die Hand; ich, hochverehrter Meister, bleib’ in unwandelbarer Treue u. Bewunderung

Ihre

M. E. delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
05.12.1898
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 18
ID
18