Schmidt, Oscar

Eduart Oscar Schmidt an Ernst Haeckel, Graz, 23. November 1866

Gratz 23. 11. 66

Lieber Freund und College

Auch wenn heute nicht so ihr freundschaftliches Geschenk in meine Hände gelangt wäre, würde ich Ihnen, es war fest bestimmt, geschrieben haben, um Ihnen zu Ihrer That von Herzen Glück zu wünschen. Seit 8 Tagen beschäftige ich mich in jeder freien Viertelstunde, ja im Einschlafen noch, mit Ihrem Buche, das ich für die kleine Museumsbibliothek angeschafft. Ich habe es in den ersten Tagen behandelt wie ein Kind, das einen großen Apfel von allen Seiten anbeißt; eben erst bin ich zu einem riesigen Genuß gekommen und stehe so eben bei „Thiere und Pflanzen“.

Ich darf glauben, daß Sie mich unter diejenigen zählen, welche die höchsten Gedanken, zu denen Sie schlussendlich schaffend sich aufschwangen, nachzudenken fähig sind. Habe ich doch, gleich Ihnen, den Proceß vom zoologischen Autoritätsglauben bis zur Anerkennung der Descendenztheorie durchgemacht. Es ist mit mir nicht so flink gegangen, aber ich preise mich glücklich, daß ich die Wendung der Zoologie, die in Ihrem Werke einen wahrhaft großartigen Ausdruck findet, mitmachen kann. Sagen kann ich über Ihr Buch vor der Hand noch nichts, als daß ich es Seite für Seite in mich aufnehme. U und daß der in ihm wehende Geist auch für den Rest meiner Thätigkeit der bestimmende sein wird. Wie ich Darwin seit Jahr und Tag aufgefasst hätten Sie aus einem kleinen Büchelchen entnehmen können, das zwei || populäre Vorlesungen von mir und Unger enthält und das ich heute oder morgen an Sie abgehn lasse. Meine Rede schließt mit dem Motto, das an der Stirne Ihrer Bände steht.

Nur den Begriff der Hypothese scheinen Sie mir hinsichtlich der Descendenzlehre etwas zu niedrig zu nehmen; sie ist zum großen Theile noch Hypothese, aber jeder Tag ernstlicher Arbeit bestätigt sie.

Einstweilen habe ich, wie Sie wohl gesehen haben werden, einige Bogen über englische Spongien veröffentlicht. Das Material zur wahren Fortsetzung dieser Arbeit will ich im nächsten Herbst bei den Balearen sammeln, wohin ich Ende August in Gesellschaft Ungers zu gehen gedenke. Sie haben sich die fossilen Schwämme auch schon angesehen; ich bin, größtentheils wegen Mangel an geeignetem Material, bisher nicht dazu gekommen. Gegen Ostern habe ich vor, mich 14 Tage in Triest aufzuhalten. Diesen Herbst war ich nicht in Jena, wohl aber mit meinem Jungen, sowie Lehrern und Genossen am Rhein. Jetzt im Winter komme ich nicht viel zum Arbeiten, da ich Vormittag und Nachmittag (Polytechnicum) zu lehren habe. Unsere Universität nimmt fabelhaft wenigstens an Frequenz zu. In der Zoologie habe ich 65 Zuhörer, darunter eine große ganze Anzahl sehr tüchtiger Leute, welchen ich im nächsten Sommer das Wesentliche der || „generellen Morphologie nach Häckel“ zu meiner eigenen Befestigung mitzutheilen gedenke.

Grüßen Sie Gegenbaur und Czermak bestens von mir. Was ersteren anbetrifft, so theile ich durchaus die wissenschaftliche Verehrung, die Sie für ihn hegen. Sagen Sie Czermak, er könne mir auch einmal schreiben, worauf er von mir Austriaca hören solle.

Hier arbeitet man der kräftigen deutschen Reichseinheit scharf in die Hände.

Im Sommer sehe ich Sie.

Ihr freundschaftlich ergebener

Oscar Schmidt

Auf Seite 22 meiner Brochüre finden Sie:

„Indessen wird auch am Ende das dunkle Gebiet des Zufalls von Gesetzen regiert.“ Gleichwohl bin ich über diese Gesetze auch nach Ihren Definitionen nicht im Reinen. Wenn das Geschehen, das wir ein zufälliges nennen, ein Geschehenes geworden, dann allerdings liegt der Nexus der Ereignisse, die causa, die necessitas vor. Der Zufall kann aber nur in der Entwicklung gedacht werden und da den Moment leugnen zu wollen, wo ohne άνάγκη das Zu-fallen nach der einen oder der anderen Seite statt findet, scheint mir nicht anzugehen. Die Wahrscheinlichkeit einer gewissen Anzahl von Zufällen erläutert mir noch nicht den einzelnen Zufall. ||

[Beilage: Carl Gegenbaurs Abschrift des Briefes von Otto Volger an Ernst Haeckel v. 24.11.1866 (EHA Jena, A 19726)]

Volger schreibt: Da ich mich Ihnen als einen der ohne Zweifel wenig (!) zahlreichen Fachgenossen vorstellen kann welche Ihre Generelle Morphologie mit voller Empfänglichkeit für alle daraus zu schöpfende Belehrung, ohne Vorurtheil und ohne Hochmuth, nicht blos durchblättern und tadeln oder loben, sondern gründlich durchdenken werden (o einziger Mann!) ‒ so gestatten Sie mir eine Fürbitte etc.

In Göthes Vaterhause (nun kommt eine Darlegung des Vaterhausschwindels)

Hier dürfte daher auch der wahre Ort sein, um das eigenhändig gewidmete Exemplar Ihres Werkes niederzulegen welches Sie dem großen Sohne Frankfurts darbringen würden,a wenn er noch lebte. (Ja, dann würde er längst die Bande hinausgeschmissen haben!!)

Nach den flüchtigen leider nicht weiter durchgeführten Verhandlungen zu Stettin, bei welchen es mir zunächst darauf ankommen musste, Ihre gänzlich der alten Schule (hört!) entnommene geologischeb Anschauungsweise abzulehnen (!!), und nachzuweisen, daß die Geologie durchaus nicht in der so vielfach benutzten Weise zur Bestätigung und Darstellung der Descendenztheorie dienen dürfe, glauben Sie vielleicht daß ich ein Gegner der letzteren sei. Und doch habe ich in einem Werkchen, welches bereits ein Jahr vor dem Bekanntwerden des Darwin’schen Werkes in Deutschland geschrieben, und welches durchaus im Sinne des Monismus gehalten ist (Buch der Erde) die Decendenztheorie als die allein richtige dargestellt. (O König der Schwindler!) Der scheinbare Widerspruch liegt, nach meiner Ansicht, nicht in einer Inconsequenz auf meiner, sondern auf Darwins Seite (à la Kölliker), und ich werde mir erlauben, dieselbe an Ihr Werk anknüpfend, sobald mir irgend dazu die Zeit vergönnt sein wird, d. h. hoffentlich sehr bald, zum Nutzen der Verständigung nachzureichen weisen. (Jetzt acht gegeben!!) Ich werde Ihnen zeigen, daß auch Sie den Monismus noch keineswegs vollständig durchgeführt haben, sondern selber noch ‒ so paradox Ihnen dies auch erscheinen mag ‒ tief in einem Dualismus, ja im Vitalismus, stecken geblieben sind. (Der Kerl zeigt Dir auch daß Du gar nicht Häckel bist, daß er es vielmehr sei! Warum nicht! Es ist alles keine Geschwindigkeit, meine Herren, gar keine Hexerei!) Es würde mir leid thun, wenn Ihnen diese Worte als eine Schmälerung meiner aufrichtigen etc., während dieselben nach meiner Denkungsweise, mein Vertrauen zu Ihrer Unbefangenheit ausdrückend, vielmehr nur ein Zeugniß meiner Hochachtung sein wollen.

Da ich in diesem Winter gerade in Goethe’s Vaterhause (vor einer sehr zahlreichen Zuhörerschaft) Vorträge über die Urgeschichte der Menschheit halte, so können Sie sich denken, wie sehr ich c Gelegenheit finde, auf Ihr Werk Bezug zu nehmen, und wie sehr es mich freue ‒ Zeugniß Ihrer Pietät gegen den Sohn des Hauses ‒ Zuhörer, Stiftsgenossen etc. etc. (Ich kann dieses erbärmliche heuchlerische, hochwichtig-bornirte Zeug nicht vollständig ends zu Ende abschreiben. Die Hauptsache ist doch der Bettel! Man möchte dem Kerle eine Schachtel Insecktenpulver schicken, zum Vertreiben der Wanzen aus Göthes Vaterhause. Sollte das nicht copirt werden, so würde eine von einem kräftigen Dienstmann gehörig applicirte Hundepeitsche die treffendste Gabe für die gegenwärtigen Inquilinen in Goethes Vaterhaus sein.)

a eingef.: welches Sie ... darbringen würden,; b korr. aus: zoologische; c gestr.: ich

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
23.11.1866
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17515
ID
17515