Verworn, Max

Max Verworn an Ernst Haeckel, Bonn, 24. November 1917

Physiologisches Institut

Bonn, 24.XI.17.

Nuss-Allee 11.

Hochverehrter und lieber Herr Professor!

In der vorigen Woche erhielt ich von Kröner in Leipzig Ihr neues Buch für das ich Ihnen meinen allerherzlichsten Dank nicht länger vorenthalten möchte. Ich habe es jetzt fertig gelesen und muss sagen, dass es zweifellos in den weitesten Kreisen starke Wirkung erzielen wird, denn es ist im höchsten Grade anregend und reizt auch den wissenschaftlichen Forscher, der mit Ihren Gedankengängen wohlvertraut ist, auf Schritt und Tritt zu eigenem Nachdenken, wenigstens, wenn er überhaupt Sinn für allgemeine und philosophische Grundfragen der Naturwissenschaft hat. Wenn Sie in Ihrem letzten Briefe, für den ich Ihnen gleichfalls recht herzlich danke, sagen, dass zwischen Ihrem „unpersönlichen Pantheismus“ und meinem „individuellen || Psychomonismus“ ein scheinbarer Gegensatz besteht, so möchte ich das „scheinbar“ ganz besonders unterstreichen, denn mein Psychomonismus soll durchaus keine individuell beschränkte Anschauung sein. Die Ableitung meines Psychomonismus, wie ich ihn, leider zu mancherlei Missverständnissen durch dieses Wort Anlass gebend, früher genannt habe, über den subjectiven Idealismus hat vielleicht zu der Annahme verführt, dass ich auf dem Boden des letzteren stehen bliebe. Dann wäre ja mein Glaubensbekenntniss nichts anderes als verrückter Solipsismus, gegen den ich mich immer ehrlich verwahrt habe, wie Sie vielleicht auch aus der beiliegenden neuen Auflage meiner „Principienfragen in der Naturwissenschaft“ ersetzen werden. Nein, mein Psychomonismus ist universell und gipfelt in dem Satz, dass wir die Welt nur als unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen kennen, dass es aber eine ganz willkürliche und durch nichts beweisbare Hypothese wäre, wenn wir die Dinge, solange sie ohne Zusammenhang mit || unserem „Ich“ stehen und keine Empfindungen und Vorstellungen mit uns bilden, als etwas anderes annehmen würden wie die Elemente unserer subjectiven Psyche. Alle Dinge sind principiell von derselben Art wie unsere Empfindungen und Vorstellungen, wenn sie auch in Bezug auf ihre Zusammensetzung noch so mannigfaltig verschieden sind. In unseren eigenen Empfindungen und Vorstellungen haben wir die einzigen Bestandteile der Welt, die wir unmittelbar kennen, weil wir sie selbst erleben! Die Annahme, dass die Dinge, die sonst noch existieren – d. h. die grade keine Empfindung in uns hervorbringen – also die „Dinge an sich“ principiell etwas anderes, von ganz anderer Art wären als unsere Empfindungen, schwebt vollkommen in der Luft. Sie sehen, wir stehen beide auf demselben monistischen Standpunkt und von diesem Standpunkt aus sind auch für mich die Grenzen des Psychischen durchaus nicht mit den höheren Thieren oder auch nur mit den lebendigen Organismen gegeben, sondern das Psychische reicht für mich wie für Sie so weit wie das Sein, wie die Welt überhaupt.

Allerdings trage ich Bedenken, den Begriff des Lebens weiter als || bis an die Grenzen der Organismenwelt auszudehnen. Das wird mir durch physiologische Gründe verhindert. Wenn wir den Begriff des Lebens scharf und brauchbar fixieren wollen, können wir nur die Thatsache des Stoff- und Energiewechsels als Charakteristicum benutzen, d. h. die Thatsache, dass Stoffe und Energie in anderen Formen in das lebendige System eintreten, als sie sind, welche das lebendige System selbst kennzeichnen, und dass Stoffe und Energie auch wieder in anderen Formen das lebendige System verlassen als sie eingetreten sind, dass aber diese Assimilation und Dissimilation während des ganzen Lebens besteht überall wo lebendige Substanz ist. Einen solchen Stoffwechsel und Energiewechsel im physiologischen Sinne besitzen die flüssigen Krystalle nicht, denn sie nehmen aus der Mutterlauge immer nur dieselben Stoffe auf, aus denen sie selbst bestehen. Ich kann mich daher vorläufig noch nicht entschliessen, die flüssigen Krystalle als lebendig zu betrachten im physiologischen Sinne, so sehr ich selbst Ihren Standpunkt theile und stets besonders energisch vertreten habe, dass ein principieller Unterschied zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Systemen nicht besteht. Aber das sind ja rein formelle || Differenzen, die das Wesen unserer Anschauungen nicht berühren. Das Wichtigste und Werthvollste, was uns immer vereinen wird, und was ich grade Ihnen allein verdanke, ist die monistische Weltanschauung und diese kommt ja wieder in Ihrem neusten Buche in eindrucksvollster Weise zum Ausdruck. Ich habe eine Menge Neues aus Ihren „Krystallseelen“ erfahren. Wichtig waren mir besonders auch die neueren Untersuchungen über Moneren und ihre Kernlosigkeit, die ich noch nicht kannte. Auch vieles aus dem Gebiete der flüssigen Krystalle war mir bisher nicht bekannt. Natürlich hat mich am meisten das 4te Kapitel des Buches interessiert, um so mehr als ich daraus wieder einmal die Überzeugung gewonnen habe, dass wir in Bezug auf die Grundfragen principiell immer noch vollkommen übereinstimmen.

Diese principielle Übereinstimmung in Bezug auf den monistischen Standpunkt würde mich nun auch veranlassen, dem in Ihrem Briefe geäusserten Wunsch bezüglich des Monistenbundes näher zu treten, wenn mir die Übernahme des Praesidiums, die ich als grosse Ehre und ebenso Aner- || kennung auffassen würde, nicht aus rein mechanischen Gründen unmöglich wäre. Ich würde nämlich einfach nicht im Stande sein, die dazu erforderliche Arbeitszeit aufzubringen. Meine Arbeitskräfte sind nicht so unbegrenzt wie die Ostwalds, den ich bewundere und bestaune. Meine akademischen Pflichten und meine hier in Bonn schon stark beschnittene wissenschaftliche Arbeit füllen meine ganze Zeit, die ich zur Arbeit aufbringen kann, aus und so bliebe mir nichts für die vielseitigen Pflichten noch übrig, die einem Praesidenten des Deutschen Monistenbundes obliegen. Indessen alles das kann ich Ihnen besser mündlich näher begründen und ich möchte das gern in den Osterferien thun, denn ich hoffe, dass ich dann wieder einmal nach längerer Pause mein altes liebes Jena aufsuchen kann.

Inzwischen bleibe ich nochmals mit herzlichstem Dank und mit vielen Grüssen von meiner Frau und Nichte stets

Ihr getreuer

Max Verworn.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.11.1917
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17455
ID
17455