Theude Grönland an Ernst Haeckel, Berlin, 17. November 1871

23. Schönebergerstraße

Berlin, 17. Nov. 71.

Lieber Professor und Freund,

Seit 3 Jahren in der deutschen Hauptstadt ansäßig habe ich oft Ihrer gedacht, oft von Ihnen gesprochen, sogar mehrere Briefe an Sie angefangen.

Nur fing ich jeden Brief damit an Ihr Verneinen der „Allgüte und Allweisheit“ zu wiederlegen; der Brief wurde immer nicht nach Sinn und so will ich denn den doctoralen Ton ganz bei Seite setzen und Ihnen nur als – soll ich sagen Mensch – soll ich sagen Maler?, schreiben. Gewiß bin ich noch immer böse auf Sie, denn wenn im Darwin’schen Fortschrittsgesetz, von Urzeit bis in alle Zeiten nicht Allgüte und Allweisheit beruht, dann warten wir gewiß vergebens auf den Meßias der sie verkünden soll. Da ist sie aber deutlich ausgesprochen, darum halte ich’s hoch. – Aber selbst wenn dieser große und tröstliche Wahrheitsverkünder nicht zu meinen Lebzeiten erstanden wäre würde ich diese Allgüte und Weisheit erblickt haben. ||

Wissenschaftliche Forschung mag den inneren Sinn übersehen, die Kunst wird ihren Gott stets feiern, grade diesen Urgott ohne Namen, der alles durchdringt aber alles der Erkenntniß und Anbetung zutreibt. Diesen Gott suchen wir, finden wir alle, durch Drangsale und Hinderniße hindurch, durch Blut und Kämpfe, durch Elend und Noth; er lebt in der harmonischen Schönheit der äußern Natur, im finstern Drohen wie im sanften Lächeln: Unsere großen Männer haben seiner Spur gefolgt, sie lebt in Raphaels Madonna, in Beethovens Tondichtungen, selbst ein Manfred erkennt ihn noch im blutigen Sinken der Sonne. Und Sie, junger, lebensfrischer Mensch, Sie glücklicher Mensch, Sie begabter Mensch, Verkünder großer Wahrheiten, Sie wollen ihn in diesen Wahrheiten nicht einmal erblicken? – Nein, davon kommen Sie zurück, früh oder spät, das verspreche ich Ihnen! –

Somit genug über dieses Thema, wenigstens für heute, also: ich bin seit 3 Jahren am 17., Abends 11 Uhr, Berliner Kind, bin froh in unserem Deutschland, dem besten Lande der Erde après tout. –

Der Maler ist nun einmal ein glücklicher Mensch, ein Bild ersteht nach dem Andern und das Eine, welches er stets gesucht, wo er all sein Sinne und Trachten niederlegt, es steht vor ihm, nicht in dem unvollkommenen vollendeten, aber in jener weißen Leinwand die sein „Nächstes“ empfangen soll. Das nächste Bild ist immer das Bild. –

So reihen die Jahre sich aneinander, die Haare bleichen, aber Herz und Sinn bleiben jung, man lebt und strebt und klettert an der Himmelsleiter des Ideals, bis man – nun, alles zu seiner Zeit! Doch, wunderschön ist Gottes Erde, und was werden wir erst sehen wenn andere Säle der Schöpfung sich erschließen? Denn so ist’s noch nicht vorbei, wir werden noch viel wandern, von Stern zu Stern, erst mal in unserm Sprengel, zwischen Uranus und Sonne, dann aber weiter, || zu den Doppelsternen, zu den fernen Nebelflecken.

Toute aspiration est une promesse. Toussenel hat Recht!

Und auch Sie, lieber Freund, Sie werden mir noch dort oben und dort unten begegnen, welche Ueberraschung für den Verneiner! Doch vorerst wird es mich freuen Ihnen noch hier zu begegnen und darum hier oben meine Adreße und wir wollen uns noch mündlich unserer Nizzaer Touren erinnern. –

Schreiben Sie mir nun vorerst ein Paar Worte; inzwischen nehme ich Ihre Bücher wieder zur Hand und, den Aerger abgeschüttelt, freue ich mich ungestört all’ des Schönen, Großen und Wahren welches Sie so freigebig, so männlich unerschrocken, so gottbegabt und beseelt darbringen.

Ganz von Herzen der Ihrige

Th. Grönland

Brief Metadaten

ID
172
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
17.11.1871
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 172
Zitiervorlage
Grönland, Theude an Haeckel, Ernst; Berlin; 17.11.1871; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_172