Wilhelm Wundt an Ernst Haeckel, Leipzig, 28. September 1899

Leipzig 28. September 1899.

Hochgeehrter Herr College!

Zurückgekehrt von einer längeren Ferienreise fand ich gestern, von Ihrem Verleger in Ihrem Auftrag mir zu gesandt, Ihre „Welträthsel“ hier vor. Ich danke Ihnen herzlich für dieses werthvolle Geschenk – mir besonders werthvoll, weil ich jede a in wissenschaftlicher Arbeit errungene Ueberzeugung werth halte, auch wenn sie nicht in allen Punkten die Meinige ist. Das eingehende Studium Ihrer „Welträthsel“muß ich mir natürlich auf die nächste Zeit versparen. Aber schon jetzt, nach dem ersten neugierigen Durchfliegen einzelner || Kapitel, glaube ich sagen zu dürfen, daß ich auch in diesem Werke wieder, wie bei allen Ihren früheren, die lebendige Wärme der Ueberzeugung, die in jeder Zeile sich ausspricht, als einen besonderen Vorzug empfinde. Zu den Idealisten rechne ich selbst mich übrigens auch nicht, obgleich ich bekenne, daß ich auf derartige Bezeichnungen nicht gerade sonderlichen Werth lege. „Monistisch“ ist in Wahrheit jede Philosophie, wenn sie nicht eklektische Stümperei ist; und so gestehe ich Ihnen denn gern, daß ich meine Anschauungenb eigentlich für noch „monistischer“ halte als die Ihrigen, weil ich meinem Monismus eine weitere Ausdehnung zu geben suche, darin dem Vorbilde des größten aller Monisten, so weit ich es vermag, nachfolgend: dem Spinoza. Nur daß ich glaube, daß das 20te Jahrhundert || berufen ist, dessen beharrende Substanz umzusetzen in lebendige Thätigkeit, seinen thatlosen Quietismus in ethische Energetik – wenn ich das Schlagwort der heutigen Naturwissenschaft auf das ethische Gebiet übertragen darf. Das Werthvolle Ihrer Entwicklungslehre erblicke ich vor allem darin, daß Sie unserm Prinzip der Aktualität einen kräftigen, zielbewußten Ausdruck gibt, und in diesem Sinne werden Sie mir wohl gestatten müssen, Sie auch in Zukunft noch nicht nur als einen der besten Forscher, ausgezeichnet vor vielen anderen durch seine Richtung auf das Ganze und auf die letzten philosophischen Probleme, sondern auch – trotz mancher widersprechender Meinungen im Einzelnen – als Gesinnungsver-||wandten im weitesten Sinne zu verehren.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr

ganz ergebener

W. Wundt.

a gestr.: im; b korr. aus: Anschuungen

Brief Metadaten

ID
17089
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
28.09.1899
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 17089
Zitiervorlage
Wundt, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Leipzig; 28.09.1899; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_17089