Hans Vaihinger an Ernst Haeckel, 27. Dezember 1888

Halle a/S 27. XII. 88

Hochzuverehrender Herr Professor!

Ich nehme mir die Freiheit Ihnen anbei ein Exemplar meiner auf der Naturforscherversammlung in Köln gehaltenen Rede ergebenst zu übersenden. Freilich befinde ich mich da in einer eigenthümlichen Lage: ich stehe auf der Einen Seite ganz auf Ihrem Boden, ich könnte sagen auf Ihren Schultern, und leite doch andererseits aus Ihren Principien Folgerungen ab, welche Sie vielleicht gar nicht billigen. Allerdings läßt Ihre von mir || in der ersten Anmerkung (auf S. 25) a aus dem Jahre 1877 citirte Stelle hoffen, daß Sie meiner Auffassung nicht ferne stehen; aber Ihre neueren Auffassungen lauten dem Gymnasium so wenig günstig, daß ich kaum hoffen kann, auf den ersten Anlauf hin Ihre Zustimmung zu gewinnen. Die Zunahme der dem Gymnasium abgünstigen Stimmung in den Kreisen der Naturforscher liegt begründet in dem starren Festhalten der Gymnasien an einigen alten Einrichtungen, wie dem lateinischen Aufsatz und in der schroffen Ablehnung der berechtigten Forderungen der Naturforscher. || Aus meinen Ausführungen ersehen Sie, daß ich ebenfalls verlange, daß der Naturforschung und ihren Fortschritten Rechnung getragen werden soll (besonders Vorrede VIII ff., S. 21, 45 ff.). Aber auf der anderen Seite halte ich am Gymnasialprincip als solchem fest. Ich leite dasselbe gerade zu aus dem biogenetischen Grundgesetz ab, und da wäre es mir nun ungemein werthvoll zu erfahren: ob Sie

1) mit der S. 4 ff. gegebenen Ausführung im Allgemeinen einverstanden sind, d. h. mit dem Princip, daß die Erziehungsgeschichte des Einzelnenb ein Auszug der Stammescivilisation sein soll, ||

2) wie Sie sich zu der daraus gezogenen Folgerung stellen, daß eben darum das classische Alterthum einen notwendigen Durchgangspunkt der Erziehung bilden müsse.

Ich glaube kaum, daß Sie jenes Princip ganz abweisen werden; wenn Sie dasselbe aber anerkennen, dann werden Sie meine Folgerung, die Anwendung auf den classischen Unterricht, auch nicht ohne Weiteres zurückweisen.

Sie selbst wissen, welche enorme Wichtigkeit die Gymnasialfrage für unsere ganze Cultur hat. Eine Versöhnung der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, wie ich sie in diesem Punkte anstrebe, wird gewiß in Ihnen keinen unbedingten Gegner finden.

In aufrichtiger Hochachtung

Ihr ganz ergebenster

H. Vaihinger.

a gestr.: citirte Stelle; b eingef.: des Einzelnen

Brief Metadaten

ID
16733
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Datierung
27.12.1888
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,5 x 19,7 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16733
Zitiervorlage
Vaihinger, Hans an Haeckel, Ernst; Halle; 27.12.1888; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16733