Franz Eilhard Schulze an Ernst Haeckel, Berlin, 4. November 1905
ZOOLOGISCHES INSTITUT DER KÖNIGL. FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT.
JOUR.-NO.
BERLIN N. 4, DEN 4. Nov. 1905.
INVALIDENSTR. 43.
Lieber Herr Kollege!
Für Ihren letzten Brief sage ich Ihnen meinen allerbesten Dank. Sie können sich denken, daß es mir herzlich leidtat, daß unsere Ansichten über die merkwürdigen Organismen der Tiefsee nicht übereinstimmten. Um so mehr freue ich mich, daß dies unser freundschaftliches Verhältnis nicht gestört hat, und ich bin glücklich, in Ihnen einen so großartig und hochherzig denkenden und empfindenden Freund zu besitzen.
Mit großem Bedauern höre ich || von den Leiden, welche Sie durchgemacht haben. Ich kenne diese höchst schmerzhafte und meist auch langwierige Krankheit, welche mein ältester Sohn, der Privatdozent der Physik in Marburg, zweimal in meinem Hause hat durchmachen müssen. Trotzdem auch er einen Herzfehler davontrug, hat sich dieser doch durch einen zweimaligen Aufenthalt in Nauheim so vollständig gebessert oder doch so kompensiert, daß er jetzt ganz wohl und leistungsfähig ist, und seit Jahren keinen Rückfall hatte. So denke ich denn, daß auch Sie bald Ihre alte und so reich bewährte Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit wiedera erlangen werden zum Nutzen unserer hehren Wissenschaft. || Auch mir ist es in den letzten Monaten nicht gut gegangen. Durch das angestrengte Arbeiten mit starken Vergrößerungen bei künstlichem Lichte habe ich mir eine Neuralgie des Nervus infraorbitalis zugezogen, welche mich empfindlich quält und meine Tätigkeit hemmt. Trotzdem arbeite ich nach Kräften weiter und halte auch (wenngleich mit oft recht heftigen Schmerzen) meine Vorlesungen und Kurse.
Eine große Freude ist für mich die meines Erachtens grandiose Entdeckung, welche Dr. Siegel unter meinen Augen gemacht hat. Diese minutiösen Parasiten von 1–2 μ Durchmesser, welche sich in ungeheurer Anzahl im Blut und im ganzen Körper bei Lues, Pocken, Scharlach und der Maul- und Klauenseuche finden, und welche ganz den Trypanosomen und Trypanoplasmen gleichen, stellen sich immer sicherer als die Erreger dieser || schlimmen Krankheiten heraus. Mein zweiter Sohn, der Augenarzt in Friedenau, arbeitet in meinem Institute über die Cytorrhycten in der Iris.
Sie werden gehört haben, daß mein früherer Assistent Schaudinn in gewissen Bakterien, Spirochaeten oder Spirillen, die Erreger der Syphilis gefunden zu haben glaubt. Zweifellos finden sich diese Gebilde in allen offenen Geschwüren und auch in den damit zusammenhängenden Lymphdrüsen, aber im Blute und in dem Bindegewebe habe ich sie niemals gesehen, kann sie daher auch nicht für die Erreger der Lues halten.
Jetzt, lieber Kollege, will ich Ihnen eine recht baldige und gründliche Besserung Ihrer Leiden wünschen, und bitte Sie, Herrn Kollegen Ziegler bestens zu grüßen
von
Ihrem treuergebenen
Franz Eilhard Schulze.
a eingef.: wieder