Max Schultze an Ernst Haeckel, Bonn, 21. Oktober 1862
Bonn 21 October 1862.
Lieber bester Freund!
Erst vor wenigen Tagen von England zurückgekehrt, wo ich 4 Wochen verweilte, habe ich natürlich die ganze Tiefe Ihres ausgezeichneten Werkes, welches während meiner Abwesenheit angekommen war, noch nicht durchdringen können. Ich habe erst auf der Oberfläche geschöpft, doch drängt es mich – damit Sie mich nicht für undankbar halten – Ihnen vor allen Dingen meinen herzlichsten Dank für das werthvolle Geschenk an sich zu sagen und dann Ihnen meine höchste Bewunderung auszusprechen, wie Sie Alles so vollendet in Wort und Bild dargestellt haben. Der Atlas von 35 Tafeln ist das Schönste was in artistischer Beziehung von naturforscherlichen Werken über niedere Thiere je geleistet worden, und ich weiß nicht was ich mehr an dem-||selben bewundern soll, die Natur, welche eine solche Mannigfaltigkeit und Schönheit der Formen schuf oder die Hand des Zeichners, welche diese Pracht auf das Papier zu bringen wußte und bei der enormen Schwierigkeit der Arbeit nicht erlahmte. Sie haben sich (und Ihrem Zeichenlehrer) ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Ich will den Genuß aber auch vollständig und mit allen Chikanen haben! Sie werden es mir erlauben daß ich mein Exemplar, wenn ich es noch etwas mehr studirt habe, an Reimer schicke und auf meine Kosten coloriren lasse.
Den Text habe ich wie gesagt erst oberflächlich gelesen, zunächst natürlich den ersten Theil. Es freut mich ungemein, daß Sie so vollständig auf meine Gedanken über Protozoenorganisation eingegangen sind und in dem Radiolarien-||organismus eine Bestätigung meiner Protoplasmatheorie finden. Ich kann mich durch keinerlei Einwürfe mehr von derselben zurückbringen lassen. Sie ist so langsam und allmählich bei mir entwickelt wie Sie zugeben werden, wenn Sie die Zeit zwischen meinem Polythalamienbuch – dem Aufsatz über die Körnchenströme in Diatomeen und Tradescantia und endlich meinen letzten Publikationen über den Gegenstand bedenken und die Form der betreffenden Capitel vergleichen, daß ich mir Uebereilung nicht vorwerfen kann. Es erklärt sich Alles so natürlich durch dieselbe, daß auch das schon eine Garantie für ihren Bestand giebt. Daß mir unter diesen Umständen Reicherts Gebahren mehr lächerlich als ärgerlich ist, werden Sie voraussagen. Ich weiß noch nicht wo und wie ich ihn einer Antwort || würdigen soll. Dasa dunkle Gefühl, daß etwas geschehen muß, um diesen unehrlichen Menschen zu brandmarken beseelt mich allerdings – doch das wie habe ich noch nicht überlegt. Sie schrieben mir auch Hartmann käme allmählich von Reichert zurück. Das scheint doch noch nicht der Fall zu sein. Kaum daß ich den unmotovirten Angriff auf meine Arbeiten über die electrischen Organe der Fische zurückgeschlagen muß der arme Hartmann schon wieder ins Feld um meine Arbeiten über Ohr und Nase in den Koth zu treten. Ich werde auf das unbegreiflich oberflächliche, tendentiöse und ans Gemeine streifende Gewäsch nicht antworten, mein mittlerweile erschienenes Buch über die Nasennervenendigungen ist hinreichend Antwort. Wer Pech anfaßt besudelt sich! Was || ist aus Berlin geworden?! Es ist doch tiefbetrübend, wie verderblich ein Mensch wirken kann!
Haben Sie denn mein Buch erhalten? Ich schickte an meinen Bruder drei Exemplare, für Sie u. Gegenbaur mit, vielleicht liegen dieselben noch bei ihm. Mirb sollte es sehr leid thun, wenn Bernhard Jena verließe. Ich weiß seit längerer Zeit Nichts über die Angelegenheit.
Actinophrys Eichhornii habe ich in diesem Sommer hier in großer Menge gesammelt und denke es gelingt, es zu überwintern. Die Kern- oder Zellenartigen Bläschen in der Rinde des dichteren Centratheiles, welche Sie auch gesehen haben, sind ganz constant und wesentlich bedingend für den eigenthümlichen Glanz, die eingenthümliche Lichtbrechung, welche der Kern der Actinophrys ausübt im Gegensatz zu der Rinde. Ich habe viele Zeich-||nungen über Actinophrys Eichhornii gemacht und denke etwas darüber zu veröffentlichen. Haben Sie bemerkt daß die Pseudopodien alle einen Theil ihrer Substanz aus dem Centraltheil des Körpers beziehen, also den Rindentheil durchsetzen und dann schließlich nur noch einen kleinen Zuschuß von demselben bekommen? Wäre eine Centralkapsel da so wäre Actinophrys eine Radiolarie wie sie im Buche steht. Ohne die und mit ihren contractilen Stellen, deren ich 4 auf einmal in Thätigkeit sah, bildet sie den allmählichen Uebergang zu anderen Rhizopoden. Dennoch möchte ich sie des vollständigc radiären d. h. genau kugligen, nach allen Richtungen gleichmäßig entwickelten Körpers wegen zu den Rhizopoda radiaria rechnen. Die Beziehung || der Kerne zur Fortpflanzung hoffe ich noch auszumitteln.
Noch nie hatte ich so viele lebende Polythalamien um mich wie jetzt. Ich habe mir von der Küste von Weymouth 6 Gläser mit lebenden Exemplaren mitgebracht, die sehr lustig in der Gefangenschaft herumkriechen. Vielleicht geben sie Material zur Beobachtung der Fortpflanzungserscheinungen.
Hätte ich von Ihrer Absicht die fossilen Radiolarien zu bearbeiten früher Kenntniß gehabt, so hätte ich Ihnen vielleicht Material aus England mitbringen können. Jetzt habe ich mir nur ein Präparat für Sie von Carpenter schenken lassen, der mir ein besonders reichhaltiges vom Barbados-Mergel gab, worauf ich || noch für Sie bettelte, da ich dachte daß es Ihnen Freude machen würde. Sie erhalten es bei nächster Gelegenheit. Jetzt aber zum Schluß, es ist spät Abend, und Sie werden längst ruhen. Wie kann ich Ihnen die Wonne Ihres jungen Ehestandes nachfühlen! Gott erhalte Ihnen Ihr Glück, Ihren zufriedenen Sinn und Alles andere wird sich schon machen.
Meine Frau grüßt und mit mir die Ihrige.
Ihr
treu ergebener
Max Schultze.
Kühne traf ich in London – wie curios! Ganz der alte, mir etwas zu blasirt und übersättigt; er ging nach Cambridge um dort für Nervenendknospen zu wühlen. Wir sprachen oft von Ihnen und wünschten Sie zu uns wie damals in Paris.
In Weymouth hatte ich kein Mikroskop, ich habe nur Seegebadet u. gesammelt. Nächstens sollen Sie für Ihr zoologisches Museum einen werthvollen Zuwachs erhalten; ich besitze einen großen Vorrath der schönsten Renillen von Südbrasilien, gesammelt von Fritz Müller. Es sind prachtvolle Geschöpfe, ich lasse sie jetzt zeichnen, dann schicke ich Ihnen später davon.d
Wissen Sie ich finde es schade, daß Sie auf p. 90 in die Definition der Sarkode das Wort Flüssigkeit mit aufgenommen haben, es entspricht dieses Wort in seiner gewöhnlichen Bedeutung doch nicht der Consistenz, dem Zustand des Protoplasma – und giebt den Gegnern einen Angriffspunkt.e
Ueber die von Gegenbaur und Ihnen statuirte Grenze zwischen Thier und Pflanzenreich ein ander Mal! Ich muß gestehen daß mir die Schärfe, mit der Sie unterschieden wollen, sehr künstlich vorkommt. Warum soll es auch nicht einzellige Thiere geben? Ich glaube wir müssen auf die Möglichkeit der Aufstellung eines solchen Differentialcharacters Verzichtf leisten, wenn wir nicht der Natur Zwang anthun wollen. Warum soll hier eine scharfe Grenze sein, da Sie doch mit mir der Ansicht sind, daß pflanzliches und thierisches Protoplasma, g also die Substanz welche Trägerin des Lebens ist, sich nicht unterscheiden laßen?h
a korr. aus: I; b korr. aus: Wir; c korr. aus: vollständigen; d Text weiter am linken Rand von S. 8: In … davon.; e Text weiter am linken Rand von S. 7: Wissen ... Angriffspunkt.; f Text weiter am linken Rand von S. 6: Ueber … Verz-; g gestr.: sich; h Text weiter am linken Rand von S. 5: zicht … laßen?