August Weismann an Ernst Haeckel, Freiburg, 4. Dezember 1865

Freiburg

4 December 1865

Lieber Freund!

Recht herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen, die mir in dieser immerhin noch etwas öden Zeit doppelt wohlgethan haben! Ich hätte sie schon längst beantwortet, wenn ich nicht so haushalten müßte mit dem Bischen von Augenanstrengung, was mir erlaubt ist.

Sie machen mir viele u. reizende Vorschläge, wie ich mir die Zeit des Brachliegens nutzbar machen solle u. ich gebe Ihnen völlig Recht, wenn Sie unsre Aufgaben nicht nur im Beobachten sehen, sondern auch im Verarbeiten des Beobachteten. Ich habe viel drüber nachgedacht, auch früher schon mich mit allen nur denkbaren Plänen herumgequält, auch Manches angefangen – aber immer zeigte sich bald, daß man ohne Augen zwar im besten Fall die Zeit herumbringen, sogar Manches lernen u. für sich selbst durch Denken erringen kann, || nicht aber im Stande ist, für’s Allgemeine etwas zu leisten. Und das möchte man doch! Lesen muß man können, u. zwar ziemlich unbeschränkt, mindestens ein Paar Stunden täglich, sonst stößt man überall auf Hindernisse. Auch ich glaube, daß es sehr an der Zeit ist, zusammenzufassen, Sinn u. Verstand hineinzubringen, wo er noch fehlt, aber bei allen solchen Aufgaben handelt es sich darum, eine große Masse von Thatsachen in ihrer Vollständigkeit zu überblicken. Dazu reicht aber der von früher her aufgespeicherte Vorrath bei mir wenigstens durchaus nicht aus. Die Thatsachen, die der Philosoph zum Speculiren nöthig hat, trägt er von selbst mit sich herum, der Naturforscher aber kann selbst beim ungeheuersten Gedächtniß nie wissen, ob ihm nicht gerade das fehlt, was den Schlüssel liefert zum Ganzen. Nein! ich habe eingesehen, daß ich noch warten muß! Aber auf-||gegeben soll es damit nicht sein.

Die Mill’sche Logik steht schon seit geraumer Zeit auf der Liste der nothwendig zu lesenden Bücher, aber noch kenne ich sie nicht. An den Kant will ich mich aber wirklich nächstens machen, zumal ich durch Sie erfahre, daß Fischer ihn ins Deutsche übersetzt hat. Aufrichtig gesagt konnte ich mich trotz mehrfacher Bemühung bis jetzt mit Kant nicht befreunden. Grade das, was ich gern bewiesen hätte, setzt er voraus, z. B. die Grundlehren der Moral. Er fußt ohne Weiteres auf der christlichen Moral, ich aber möchte wissen, wie viel u. was für Moralsätze sich aus der reinen Natur des Menschen ableiten lassen etc. Spinoza war schon als Student mein Liebling u. würde es glaube ich noch sein, wenn ich ihn studiren könnte.

Für Ihre mehrfachen sehr interessanten Zusendungen meinen besten Dank! Wenn ich Ihnen doch auch bald wieder etwas Neues zuschicken könnte! Wenn doch wirklich etwas draus würde, daß wir nächsten Herbst zusammen am Mittelmeer arbeiteten! ||

Leider habe ich von den Geryoniden nur Einzelnes lesen können u. die Abbildungen durchgehen; außer der wunderbaren Entwicklung sind mir die histologische Data besonders interessant u. ich muß dazu den Text, sobald möglich, kennen lernen. Daß das Nervensystem endlich feststeht, hat mir für die armen Bestien wahrhaft wohlgethan, denn was sollten sie sonst mit ihren schönen Augen u. Ohren anfangen? Sollten die Hydroidpolypen mit ihrer großen Empfindlichkeit u. ihrem zelligen Bau nicht auch eins besitzen? Und daß die Polypen Nerven haben, davon darf man jetzt wohl so ziemlich im Voraus moralisch überzeugt sein.

Daß Ihre fossilen Abdrücke wirklich Medusen angehören, scheint mir gewiß; jedoch kann ich mir nicht recht klarmachen, wieso zugleich die Dicke des Gallertschirms u. die Radiärkanäle sich abdrücken konnten, da doch Letztere in der Masse des Ersteren liegen? Sie deuten auf eine knorplige Beschaffenheit ihrer Wände hin, die aber doch erst dann in Betracht kommen kann, wenn der Schirm || zerdrückt ist. Ich denke mir das Zustandekommen des Abdruckes so, wie ich es in einem ausgetrockneten Sumpf fand, wo der Boden bedeckt war mit todten Thieren, die alle überzogen waren mit einer rasch getrockneten dünnen Schlammschicht. Die Medusen liegen ja oft zu Hunderten nach einem Sturm in den Lachen an dem Strand; unter günstigen Umständen kann da schon eine von einer hinreichend dicken Schlammschicht bedeckt worden sein, sodaß die trocknende Form durch die nächste Fluth nicht wieder aufgelöst wurde.

Von Würzburg habe ich noch Nichts gehört, weiß auch gar nichts Indirektes von dort u. war durch Ihre Mittheilung überrascht, da ich glaubte, man habe dort die Sache vorläufig ad acta gelegt. Ich brauche kaum zu sagen, daß mir eine Berufung von dort sehr viel werth wäre. Ich würde übrigens wohl ohne Zweifel auch gehen, denn die angenehmen colle-||gialischen Verhältnisse hier sind zwar sehr viel werth, wiegen aber doch den Mangel einer entsprechenden Lehrthätigkeit nicht auf. Die wenigen Mediciner, die wir haben, sind so überhäuft mit „Zwangskollegien“, daß man ihnen in d. That nicht zumuthen kann noch etwas darüber hinaus zu treiben, u. doch möchte ich nicht auf immer darauf beschränkt sein, nur Zoologie u. vergleichende Anatomie zu lesen. Auch die socialen Verhältnisse lassen Vieles zu wünschen übrig, denn eine eigentliche Geselligkeit im bessern Sinn existirt doch nur ganz sporadisch. Dem widerwärtigen Anblick fanatischer Pfaffen u. ihrer Horden würde man freilich durch eine Übersiedelung nach Würzburg nicht entgehen! Sie glauben nicht, wie Einem das mit der Zeit immer fataler wird, u. wie Einem die Milch der frommen Denkungsart in Gift verwandelt wird, wenn man die Lauheit der Regierung sieht diesem || Treiben gegenüber, wie sie die eigne Parthei überall im Stich läßt u.ihr dadurch den Muth nimmt, dagegen die Pfaffenbande mit einer empörenden Milde behandelt.

Nun leben Sie recht wohl, ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, noch in diesema d. h. nächsten Jahr mit Ihnen zusammen an der See zu arbeiten, sollte es aber nicht sein, so wird Ihr Weg dorthin über Freiburg gehen. Immer d. h. zu jeder Zeitb werden mir ein Paar Zeilen von Ihnen eine rechte Freude sein.

Gegenbaur bitte ich für sein Bild besten Dank zu sagen, sowie auch für seine mir freundlichst zugesandte Abhandlung „Zur vergleichenden Anatomie des Herzens“. Mit herzlichem Gruß an ihn u. an Sie selbst

Ihr

treu ergebner

August Weismann

De Bary läßt grüßen u. um Nachsicht bitten wegen seiner Photographie, die er demnächst von Berlin erhalten u. Ihnen zuschicken wird.

a gestr.: J; b d. h. zu jeder Zeit

Brief Metadaten

ID
16440
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
04.12.1865
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 22,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16440
Zitiervorlage
Weismann, August an Haeckel, Ernst; Freiburg im Breisgau; 04.12.1865; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16440