Ehrenfried Schultz an Ernst Haeckel, Ratibor, 26. Juli 1903

Ratibor d. 26 Juli 1903.

Gartenstr. 4.II.

Sehr geehrter Herr Professor

Seit einigen Jahren befindet sich mein geistiges Leben in einer Umwandlung in einem fortwährenden Suchen nach einer wahren Erkenntniß und einer befriedigenden Weltanschauung. Von meinen Eltern her gehörte ich zu einer Religionsgesellschaft die vor etwa 60 Jahren unter dem weiter bekannten Namen „Irvingianer“ in England bekannt wurde; ihre Entstehung und Entwicklung dürfte auch in diese Zeit fallen. Die Ereignisse, wie solche vor einigen Jahren durch den Tod des letzten Gründers dieser Gesellschaft eintraten, gaben mir Recht, daß auch diese Lehre nichts weiter wie Hirngespinste und eine Utopie war. Obgleich ich als denkender junger Mann, mir über Gott, Religion und Unsterblichkeit || meine eigenen Gedanken machte konnte ich nicht recht zu einem befriedigenden Endresultat gelangen. Ich legte mir nur immer die Frage vor warum und zu was wohl ein Ureinwohner von den Südseeinseln oder aus dem inneren Afrika mal auferstehen sollte, welchen Zweck er eigentlich haben soll wenn dessen Seele ewig a leben soll. Und wenn dann von großen Naturereignissen, wie dem Ausbruch des Monte Pelée, Überschwemmungen ect. berichtet wurde fragte ich mich, obb dieses Alles Handlungen, Fügungen einen [!] weisen, hohen vollkommenen, persönlichen Gottes sein können, natürlich kam ich zu dem Schlußwort Nein. Bei diesen Betrachtungen fehlte mir doch aber immer eine gediegene Unterlage. Diese habe ich nun geehrter Herr Professor in Ihrem Buch „Die Welträthsel“ gefunden || und möchte Ihnen hiermit, meinen innigen Dank aussprechen, daß Sie so freimüthig und ehrlich die Ergebnisse Ihres jahrelangen Mühens und Denkens zum Wohle der ganzen Menschheit bekannt geben. Bei Betrachtung dieser Studien und monistischen Weltanschauung, kann man sagen, daß sie leben und sich immer mehr entwickeln möge, zum Wohle der ganzen Menschheit, aber nicht wie neulich der Kaiser in Bezug auf den Vertreter des Papismus sagte, daß Gott ihn noch lange erhalten möchte, zum Wohle der ganzen Welt. Solche Worte müssen dem Herrn dort im Vatikan riesig zu Kopfe steigen und konnte das Telegramm des Kaiser’s, wo er diesmal nurc von dem Verlust den die römisch-katholische Kirche durch den Tod des Papstes erleidet sprichtd, die Andersdenkenden einigermaßen für die ersteren Worte entschädigen. Ich möchte mich mit Ihnen über so viel Punkte || die mit einer so reichen Gedankentiefe in Ihrem Buche behandelt sind gern unterhalten, aber Ihre kostbare Zeit läßt dieses nicht zu wie ich wohl weiß, nur dieses Eine möchte ich Sie heute fragen. Wie können die Gebote des Egoismus und des Altruismus in solche gesetzliche Form gelegt werden, daß diese mächtigen Triebfedern im menschlichen Leben, nicht zu sehr zum Schaden oder zum Vorteil gewisser Menschenklassen ausschlagen?

Für freundliche Anregung wäre Ihnen dankbar. Wäre es nicht wünschenswerth, daß sich überall monistische Gesellschaften, Vereinigungen, Gemeinden bilden, die die neue Erkenntniß pflegen, verbreiten und sich selbst damit erbauen! Indem ich Ihnen meine Hochachtung und Dank ausspreche, gestatten Sie mir zu sein Ihr

ganz ergebener

Ehrenfried Schultz

a gestr.: habe; b korr. aus: un; c eingef.: nur; d eingef.: spricht

Brief Metadaten

ID
16322
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
26.07.1903
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
16,6 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 16322
Zitiervorlage
Schultz, Ehrenfried an Haeckel, Ernst; Ratibor (heute: Racibórz); 26.07.1903; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16322