Victor Weber an Ernst Haeckel, Kyhna, 15. Oktober 1852

Kyhna den 15/10 52

Treuloser, wortbrüchiger Leute an der Nase herumziehender, aber dennoch – unendlich geliebter Ernst!

Ich habe da einen alten guten Freund, den Du auch gut kennst ich will ihn jedoch nicht nennen, den hatte ich lange nicht gesehen u. sehnte mich daher ganz maaßlos nach ihm, denn wir waren früher Tag für Tag beisammen gewesen u. konnt ich nicht ohne ihn leben, daher schrieb mir nach langem Schweigen endlich einen Brief, über den ich mich natürlich sehr freute u. noch mehr als ich las: „Das Nähere verspare ich mir auf die mündliche Mittheilung in den Ferien.“ In meiner Freude u. Dankbarkeit setzte ich mich alsbald hin schrieb u. schrieb 3 Wochen lang einen langen a langen Brief, machte auch schöne Bilder und zeichnete viel, sehr viel, einen Sonntag von früh 6–Sonnen Untergang ohne aufzustehen u. der Schweiß lief mir von der Stirn. Und als ich meinte, daß die Zeit gekommen sei ging ich täglich auf den Bahnhof u. spähete ob ich meinen alten Freund träfe. Doch statt dessen, brachte ein Fremder einen Brief u. in dem Brief stand: Das Nähere verspare ich mir auf die mündliche Mittheilung im September. Ich war tief betrübt, daß diese Zusammenkunft wieder verschoben war, doch hoffte ich ganz bestimmt auf den September u. als der 22te September kam, machte ich mich eilig auf u. flog den Weg von Kyhna bis Merseburg in 3½ Stunden u. es war sehr heiß u. ich schwitzte sehr. Als ich nun ankam in Merseburg sprachen die Leute: Dein Freund kömmt nicht als im October. Ich nahm meinen Stab u. machte mich wieder zurück denn b Kummer u. Traurigkeit drückten mich nieder.

Und ich harrete daheim, ob vielleicht ein Brieflein käme von meinem Freund u. des Abends wenn ich mein Lager bestieg, dachte ich an ihn u. des Nachts wenn ich träumte war er bei mir u. des Morgens wenn ich aufstand, dachte ich an ihn u. wünschte ihm einen guten Morgen in meinen Gedanken. Endlich den 14ten/10 machte ich mich wieder auf u. ging nach M. doch wiederum sprachen die Leute als sie mich sahen u. höreten was mein Begehr war: Dein Freund kommt erst den 22/10. – Dies ist die Geschichte von meinem Freunde, die ich Dir erzählen wollte. Nun frage ich Dich u. Alle die ihr Wort gern halten, was soll ich von solchem in den April schicken denken, wie soll ich den Schuldigen nennen? Einen Betrüger, Wortbrüchigen oder wie? Ich würde meinen ganzen Zorn u. Verachtung zusammennehmen u. ihn damit strafen, wenn ich dem Schelm nicht von jeher so von Herzen gut gewesen wäre. Na ich will noch nicht an seiner c Wahrhaftigkeit zweifeln u. das Beste von ihm hoffen. − .− ||

Deine Pflanzen habe ich unversehrt erhalten u. spreche Dir meinen wahren Dank dafür aus. Auch nicht zu vergessen für das Papier, worin sie liegen, das kömmt mir grad zu Stelle, denn das meinige ist schon seit anno I alle u. der ganze disjährige Vorrath an Pflanzen ist obdachlos. Nächst diesem Dank kann ich aber auch nicht die Beschwerde unerwähnt lassen die von Weiß u. namentlich von mir gegen Dich erhoben wird. Weiß beschwert sich, daß Du ihm stets eine ganze Seite lang schriebest, welche Freude Dir sein langer Brief gemacht habe u. dann am Schlusse in Deiner Ungenügsamkeit noch d einen längeren Brief verlangst, während u. das ist vorzüglich auch meine Klage, während Du aus u. ganz vorzüglich mich auf eine stiefmütterliche Weise versorgst, die ihres Gleichen nicht hat. Für meine 3 langen Briefe, habe ich 2 von Dir, die zusammen nicht so lang sind als von mir einer. Weiss hast Du zwar besser versorgt doch ist er auch nicht zufrieden. „Na ich hoffe daß das in Zukunft aufhören wird.“ u. daß Du stets Deinen langen (4 solche Seiten als Minimum) Brief schreibst, wie sichs gebührt! Du schreibst ja so so gern Briefe. Also Wohlgemerkt! – Die langen Ferien sind vorüber. In fachwissenschaftlicher Hinsicht habe ich wenig gethan. Doch habe ich wenigstens trotz der wenigen Excursionen, manche neue Art, so vermutlich in letzterer Zeit den Chenopodeen, doch in einer Sache habe ich viel gethan: im Zeichnen, ich habe nach Vorschriften von Naumann Baumschlag gezeichnet, so prachtvoll, daß die Vögel Nester drin bauen wollten u. Naumann selbst hat sich über seinen gehorsamen fleißigen Schüler höchlichst gefreut.

Als ich am 22/9 in M. war u. Dich erwartete, erfuhr ich, daß Dorendorf Nachts vorher nach mehrwöchentlicher Krankheit (Kehlkopfschwindsucht) gestorben sei. Mit dieser gewiß auch für Dich traurigen Nachricht endige ich meinen Brief, Deiner endlichen Ankunft ungeduldig entgegen sehend, versichere ich Dir, daß Dich noch mit der alten Glut liebt

Dein

alter Freund

Victor.

Wenn Du etwas an Gandtner zu bestellen hast, ich schreibe eben einen Brief an ihn, auch wohne ich noch Spiegelgasse Nr 58 in Halle, woselbst ich Dich erwarte am 22/10.

Heute ist zum ersten Mal in unserer Dorfschule der 15te gefeiert worden durch einen Schulactus. ||

[Adresse:] Dem | Herr, stud. med. Ernst Häckel | in | Berlin. | Schifferstraße Nr. 6 | frei

a gestr.: u.; b gestr.: der; c gestr.: Versprechen; d gestr.: mehr

Brief Metadaten

ID
16198
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Kyhna
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Preußen, Provinz Sachsen
Zielort
Zielland
Deutschland
Datierung
15.10.1852
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 19,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 16198
Zitiervorlage
Weber, Victor an Haeckel, Ernst; Kyhna; 15.10.1852; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_16198