Johannes Walther an Ernst Haeckel, München, 30. Juli 1883

München d. 30. Juli

1883

Hochverehrter Herr Professor!

Die Zeit rückt immer näher heran, wo ich nach dem Süden ziehen darf, um an der zoologischen Station in Neapel die Wunder des Meereslebens mit eigenen Augen zu sehen und zu studiren. Ich hoffe zwar, vor meiner Abreise noch einmal nach Jena zu kommen und mich persönlich bei Ihnen zu verabschieden, doch könnten Sie dann verreist sein und so erlaube ich mir, dies brieflich zu thun, Ihnen zugleich eine Bitte vorzutragen. Da ich außer Dr. Chun, mit dem ich wahrscheinlich reise in Neapel gar Niemand kenne, auch im nächsten Frühjahr eine Reise durch ganz Italien und Sicilien machen möchte, || möchte ich Sie um einige Empfehlungskarten bitten. Solche öffnen und ebnen manchen Weg, den man im fremden Land sonst nicht gehen könnte.

Ich hoffe, daß Sie meine Freiheit entschuldigen und, daß Ihnen aus der Erfüllung meiner Bitte keine Mühe erwächst.

Schneller als ich gedacht ist das Sommersemester vorübergangen und damit mein Aufenthalt in München, von dem ich sehr befriedigt bin, wenn ich auch nur die wenigste Zeit in München selbst war. Ich fand an Professor Zittel einen höchst liebenswürdigen Lehrer auch durch Ihre freundliche Empfehlung eine sehr gute Aufnahme bei Güntel. Meine meisten Studien waren alpengeologische und habe ich auf vielen Touren in Oberbayern, Salzkammergut, Nord- und Südtirol mir einen leidlichen Überblick dieses so schwierigen und doch so anziehenden Arbeitsfeldes verschafft. Anschauung ist ja für einen Geologen die Hauptsache || in und aus der Natur selbst muß man lesen. Wenn ich von Oktober bis März in Neapel gewesen bin und Messina und Aetna, dann die norditalienischen Städte gesehen, gedenke ich über Triest nach Wien zu gehen und hoffe dort als Practicant an der geologischen Reichsanstalt, wenn möglich bei Mojsisovic an den geologischen Aufnahmen theilnehmen zu können.

Winter 1884/5 werde ich wieder zu Zittel gehen um eine größere paläontologische Untersuchung vorzunehmen.

Was ich in Neapel arbeite, weiß ich noch nicht. Zuvörderst kommt es mir darauf an, das Meer und das Meeresleben kennen zu lernen, alle die Thiere zu sehen und zu beobachten, die der Binnengeolog immer in Spiritus oder in Zeichnungen kennt – ich glaube gerade nach der Seite für meine geologisch-paläontologischen Studien viel Nutzen zu haben. Dann aber interessirt mich das Visceralskelett der Fische noch so, daß ich gern einige ontogenetische Studien darüber machen möchte besonders da dieses Object || eines der günstigsten sein muß für die Lösung der Homologiefrage welche mich seit diesem Winter wo ich manchen harten Disput mit Professor Leuckart darüber hatte, auf das lebhafteste interessirt und mit der ich mich ana Regentagen selbst in mancher Hochgebirgsseenhütte beschäftigte. Wenn mir auf dem Gebiet der und jener flüchtiger Gedanke in Neapel reifte und feste Gestalt bekäme würde ich von meinem Aufenthalt daselbst mehr als befriedigt sein.

Indem ich Ihnen, hochverehrter Herr Professor im voraus herzlich danke für die Erfüllung meiner Bitte verbleibe ich in der größten Dankbarkeit

Ihr

treuer Schüler

Johannes Walther

München. Quaistr. 8. pt. l.

a korr. aus: am

Brief Metadaten

ID
15830
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
30.07.1883
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15830
Zitiervorlage
Walther, Johannes an Haeckel, Ernst; München; 30.07.1883; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15830