Johannes Walther an Ernst Haeckel, Leipzig, 5. November 1882

Leipzig d. 5. Nov. 1882.

Hochverehrter Herr Professor!

Sie haben hoffentlich nicht geglaubt, daß ich, seit ich Jena verlassen, die fatale Sache mit der Zeitschrift vergessen habe, und keine weiteren Schritte gethan hätte. Leider sind allerdings die Schritte, die ich bisher that ohne Erfolg gewesen, denn weder Fischer noch Engelmann sind in Besitz der fehlenden Bände. Sie glauben nicht wie unangenehm mir dieser Fall ist zumal da Sie indirect dadurch auch betroffen sind. Ich will jetzt sofort in allen Antiquariaten anfragen und in der Antiquariatszeitung inseriren, hoffend || dadurch bald imstande zu sein, die trübe Erinnerung die ich in Jena gelassen auszulöschen. Seit 14 Tagen bin ich nun hier in Leipzig, habe mich leidlich eingerichtet und bin in meinen Studien bis zu einem vielversprechenden Anfang gelangt – bis jetzt allerdings noch herzlich wenig. Meine Hauptthätigkeit ist Mineralogie, Petrographie und Geologie. Doch da die Institute nur Vormittags geöffnet sind und nur Geheimrath Leuckardt mir Nachmittags zu arbeiten erlaubt, bleibt mir der Nachmittag für zoologische Studien.

Ich war sehr erstaunt über die Liebenswürdigkeit mit der mich Leuckardt aufnahm und die Zuvorkommenheit mit der er mich behandelt. Schon manche halbe Stunde habe ich mit ihm die verschiedensten wissenschaftlichen Fragen durchgesprochen und sobald er irgend etwas hat, kommt er und erzählt es mir. Ich bin darüber umso verwunderter, als ich von Dr. Heim seinerzeit wahrhaft fürchterliche || Geschichten vernommen hatte. Sein Colleg über vergleichende Anatomie ist von 250 besucht und gefällt mir recht gut. Man könnte es: „Einleitung in das Studium der Zoologie“ nennen, denn es ist hauptsächlich für „Embryonen“ auf zoologischen Gebiete berechnet obwohl ich theils repetirend, theils Neues lernend nicht ohne Stützen das Colleg bisher gehört habe. Freude macht es mir, wie er mit einer großen Geschicklichkeit alle „Schulausdrücke“ oder besser termini technici, wie sie uns in Jena geläufig sind, zu umgehen sucht.

So sprach er kürzlich viel über das biogenetische Grundgesetz, ein andermal über Kampf ums Dasein, oder Pangenesis ohne die betreffenden Worte auch nur zu erwähnen. Immerhin habe ich aus allem gemerkt, daß er Ihnen imgrundegenommen nicht so fern steht, als ich bisher zu glauben geneigt war.

Die Arbeiten, die im Institute gemacht werden, sind nicht beschreibender Art. Kehlkopfknorpel der Vögel, Zungenmuskeln der Vögel, Spermatozoen der Paludina vivipara etc., ich habe eine kleine Untersuchung angefangen über die radii branchiostegi und ihr Verhältniß zu dem operculare, sowie zum Hyoidbogen || gedenke später auch Lachse zu züchten um die so höchst eigenthümliche Anlage des Hyoids zu untersuchen, welches ja durch Längstheilung vom ursprünglichen 2 Visceralbogen abgespalten wird. Die Grundfrage ist mir die, ob man 2 homolog belagerte Theile (Hyoid der Selachier und der Telestier) bei verschiedener Entwickelung für homolog halten darf, oder: ob die Entwicklungsgeschichte das einzige Kriterium abgiebt zur Aufstellung von Homologien? Ob ich die Untersuchung hier endigen werde, ist wohl zweifelhaft – die Frage ist zu wichtig um sie über die Hand zu brechen, vielleicht kann ich nächsten Winter nach Neapel um die Arbeit dort fortzusetzen. Mit den Privatdocenten Dr. Chun, Dr. Marshall Dr. Fraisse komme ich oft zusammen, ersterer hat einen höchst interessanten Generationswechsel bei Siphonophoren gefunden, Marshall auch einen neuen Fall von Delamination der Gastrula bei Reniera filigrano.

Ich schließe mit der Bitte, daß Sie, hochgeschätzter Herr Professor, mir trotz der fatalen Angelegenheit, auch fernerhin ein freundliches Andenken bewahren mögen und bleibe

In steter Dankbarkeit

Ihr

treuer Schüler

Johannes Walther

Brief Metadaten

ID
15828
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
05.11.1882
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,4 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15828
Zitiervorlage
Walther, Johannes an Haeckel, Ernst; Leipzig; 05.11.1882; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15828