Wilhelm von Waldeyer-Hartz an Ernst Haeckel, Berlin, 20. Februar 1917

Berlin NW. 6

Luisenstraße 56

Anatomisches Institut

20 Februar 1917

Verehrter Herr Kollege!

Sie haben mir durch Ihre Sendungen und durch Ihren liebenswürdigen Brief eine so grosse Freude bereitet, wie ich sie lange nicht gehabt habe. Wie Sie sich mit größter Sicherheit und Treue an alles erinnern, was uns zusammengeführt hat und wie Sie ein so warmes Empfinden in jeder Zeile erkennen lassen! Aber auch mir haftet jene Begegnung mit Ihnen fest im Gedächtniss, vor allem Ihr schönes Fest in Jena und unser Zusammensein bei Gadow in England, dessen Gäste wir waren.

Nun darf ich aber noch mehr sagen: Sie sind auch mein Lehrmeister gewesen! An Jahren stehen wir freilich einander nicht fern; aber Sie waren mir weit voraus in Forschungen und Arbeiten über die wissenschaftlichen Grundlagen der Morphologie; da bin ich bei Ihnen und bei || Karl Gegenbaur in die Schule gegangen.

Vom Gymnasium ging ich nach Göttingen, um Mathematik zu studieren; das Jahr, welches ich darauf verwendet habe, reut mich nicht. Da kam ich zufällig einmal in Henle’s Kolleg und wie mit einem Schlage erfasste es mich, ich müsse Anatom werden. Ich erinnere mich aber auch keines meisterhafteren Dozenten für dieses Fach als Henle, mit dem mich spätere treue Freundschaft verband, es war. Mein Weg führte mich, da ich damals in Göttingen das preussische Tentamen philosophicum nicht ablegen konnte, einem mir befreundeten westfälischen Landsmanne zu Liebe, nach Greifswald und das zu meinem Glück. Ich bekam dort bald die Stelle eines Amanuensis am Anatomischen Institute mit Wohnung im Institute und hatte so alle Gelegenheit mich anatomisch auszubilden. Das Wichtigste aber war, dass ich dabei in die Schule eines der feinsten anatomischen Technikers, des damaligen Prosektors Ferdinand || Sommer, späteren Ordinarius für Anatomie in Greifswald, kam, der es sich angelegen sein liess, mich nach allen Richtungen hin auszubilden und mich auch in seinen näheren Umgang zog.

Dann kamen noch die Lehrjahre in den physiologischen Instituten bei v. Wittich in Königsberg und bei Rudolf Heidenheim in Breslau, dann acht Wanderjahre durch die pathologische Anatomie. Niemals jedoch verlor ich mein Ziel, die normale Anatomie, aus dem Auge und während dieser Wanderjahre war es, dass ich mich an der Hand Ihrer Werke, namentlich der „Generellen Moprhologie“ und an den Werken Gegenbaurs in die wissenschaftlichen Grundlagen der Morphologie einarbeitete. Und als ich nun, Dank einer Empfehlung Henle’s, nach Strassburg als normaler Anatom berufen wurde, konnte ich mit gutem Gewissen dem Rufe folgen. So danke ich das auch Ihnen!

In unser Beider Entwicklung hinein leuchtet aber das Licht eines Grossen, das Johannes Müllers! Sie hatten noch das Glück || sein unmittelbarer Schüler zu sein; ich war es in zweiter Linie, durch Henle. Sie gedenken ja Johannes Müllers auch in Ihrem Briefe.

Am 31 März scheide ich in voller Ruhe und mit dankbarer Empfindung, dass ich so lange meines Amtes walten konnte, aus meinem Institute. Hoffentlich bewahre ich mir, wie Sie es mir in so herzlicher Weise wünschen, noch ein paar Jahre die geistige und körperliche Frische, die Sie so sehr auszeichnet. Darin müssen Sie mir aber noch weiterhin voran gehen!

Ihr Brief und Ihr Werk“ „Fünfzig Jahre Stammesgeschichte“ werden in meiner Familie zum dauernden Andenken an Ernst Haeckel aufbewahrt bleiben; ich habe das Buch mit dem grössten Interesse zu lesen begonnen. Einige Arbeiten hoffe ich Ihnen im Laufe des Jahres noch senden zu können.

Bleiben Sie uns noch lange in gewohnter Rüstigkeit erhalten und mögen wir Beide noch den „Deutschen Frieden“ mitfeiern können, den Sie uns in Ihrer erquickenden Schrift: „Der Desperado-Krieg“ vor Augen stellen!

In alter treuer Verehrung

Ihr v. Waldeyer-Hartz.

Brief Metadaten

ID
15543
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
20.02.1917
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15543
Zitiervorlage
Waldeyer-Hartz, Wilhelm von an Haeckel, Ernst; Berlin; 20.02.1917; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15543