Wilhelm von Waldeyer-Hartz an Ernst Haeckel, Berlin, 6. April 1914

Berlin 6 April 1914

NW 6, 56 Luisenstr.

Anatomisches Institut.

Verehrter Herr Kollege!

Sie konnten mir keine grössere Freude machen, als durch die eigenhändige Widmung mit der Sie die mir freundlichst zugesandten Erinnerungen an Ihren 80ten Geburtstag begleitet haben; ich bin stolz darauf! Aus den Ihnen gewidmeten Erinnerungsschriften haben mir besonders gefallen die von Maurer und die von Fürbringer. Maurer hat Sie und Ihr Werk in klarer und feinsinniger Weise geschildert, überzeugend treu und wahr; bei Fürbringers Gabe wird man warm ums Herz. ||

Mir war das nicht bekannt gewesen, dass Sie damals so mannhaft und entschlossen für Bismarck eingetreten sind. Da müssen Ihnen alle Deutschen danken!

Mit Vergnügen habe ich den Neudruck Ihres Aufsatzes über „Psyche“ gelesen, der mir bei seinem ersten Erscheinen entgangen war. Darf ich mir dazu eine Bemerkung aus der katholischen Dogmatik erlauben. In der katholischen Kirchenlehre erzogen ist es mir schon wiederholt aufgefallen, dass der Begriff „unbefleckte Empfängnis“ nicht richtig aufgefasst wird. So wie Sie ihn citiren, muss er sich auf die Empfängniss Jesu im Schoosse Maria’s || beziehen, denn das ist eine Jungfernempfängniss, eine Parthenogenesis nach der Kirchenlehre; da soll ja der „heilige Geist“ die Rolle des Mannes übernommen haben. Aber die katholische Kirche versteht unter „unbefleckter Empfängniss“ etwas Anderes, was mit Parthenogenesis nicht zusammengestellt werden kann, nämlich die Empfängniss Mariens der Mutter Jesu selbst im Schoosse der heiligen Anna, der Mutter Mariens. Dabei ist es, soweit natürliche Dinge in Frage kommen, genau so zugegangen zwischen Mann u. Weib, d. h. zwischen dem Vater Mariens und seiner Frau, der hl. Anna, wie bei der Empfängniss jedes anderen Menschen; aber die Frucht dieser Empfägniss, || die also keine „Jungfernzeugung“ sondern eine „gonochoristische“ war, blieb von dem befreit, was nach der Sage von Adams Apfelbiss jedem Sterblichen bei seiner Empfängniss angehängt wird, nämlich von der Erbsünde. So war also die Jungfrau Maria, die spätere Mutter Christi, von Anfang ihrer Existenz an von der Makel jeder Sünde, auch von der „Erbsünde“ befreit; ihre conceptio war eine „immaculata“, ihre Empfägniss war eine „unbefleckte“. Sie, d.h. Mariaa, brauchte also auch nicht getauft zu werden, denn ihr haftete keine Erbsünde an. So als vollkommen reine, unbefleckte war sie geeignet die Mutter Gottes zu werden. Verzeihen Sie, hochverehrter Kollege, diesen dogma-||tischen Excurs. Ich weiss so genau damit Bescheid, weil grade das Dogma von der unbefleckten Empfägniss in den Jahren verkündet wurde, als ich an dem katholischen Gymnasium zu Paderborn in der Oberprima sass und wir sehr eingehend in diesen Dingen unterrichtet wurden. Es ist interessant auch an diesem Beispiele zu sehen, wie konsequent die katholische Kirche im Aufbau ihrer Dogmen ist. Stand die Lehre fest, das Christus Gottes Sohn, wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich war, so durfte er seinen Ursprung aus keinem Weibe nehmen, || das auch nur einen Augenblick seines Daseins von einer Sünde befleckt gewesen war und so entstand, nach Jahrhunderte langen Discussionen für und wider, dann auf besonderes Betreiben Pius IXten, eines begeisterten Anhängers des Marienkults, das Dogma von der unbefleckten Empfängniss. Der gründliche Unterricht, den ich in diesen Dingen erhielt, hat nicht vorgehalten; ich glaube weder an die parthenogenetische Empfängniss Jesu, noch an die unbefleckte Empfängniss Mariae. Dagegen stimme ich mit voller Ueberzeugung dem Satze zu, mit || welchem Sie Ihre „Psyche“ schliessen: „Immer bleibt die Liebe die Krone des Lebens. Die reine und veredelte Liebe der beiden Geschlechter ist nicht nur die notwendige Bedingung zur Erhaltung des Menschengeschlechtes, sondern auch in beiden der Antrieb zu den höchsten Geistes-Funktionen, zu den erhabensten und schönsten Produkten der Psyche.“

Mit herzlichen Wünschen für Ihr Wohlergehen

Ihr aufrichtig ergebener

Waldeyer.

a eingef.: d.h. Maria

Brief Metadaten

ID
15542
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
06.04.1914
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
11,3 x 17,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15542
Zitiervorlage
Waldeyer-Hartz, Wilhelm von an Haeckel, Ernst; Berlin; 06.04.1914; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15542