Carl Theodor Ernst von Siebold an Ernst Haeckel, München, 22. Februar 1873
München den 22/2 73.
Verehrtester Freund und Collega!
Für die Mittheilung Deines freundlichen Vorhabens, mich bei der Herausgabe Deiner Schöpfungsgeschichte, Auflage IV. bedenken zu wollen, bin ich Dir sehr verbunden. Einstweilen lese ich die Auflage III mit großer Andacht und Aufmerksamkeit, wobei ich mich nicht im geringsten beunruhigt fühle, im Gegentheil, fast alles, worüber andere Gemüther entsetzt sein mögen, ist mir aus der Seele gesprochen; ich finde mich in meinem Denken und Seÿn dabei nicht im geringsten beunruhigt. Meine Freude habe ich jedesmal, wenn Du von Goethe citirst, dessen Worte jedesmal so durchschlagen, daß man nicht begreift, wie man nicht schon früher eine so glückliche Nutzanwendung von diesen inhaltsschweren Sentenzen unseres Altvaters Goethe gemacht hat, freilich gehörte auch ein besonderes Verständniß dazu, das uns erst durch Darwin aufgegangen ist.
Ich bedaure aber immer, wenn Du eine Pracht-||stelle citirst, daß Du nicht immera jedesmal das Citat näher bezeichnet hast, indem man doch gerne die überraschenden Worte und deren noch überraschenderen Sinn an Ort und Stelle und im Zusammenhange mit dem Uebrige in Goethe’s Werken nachlesen möchte.
Es ist mir nicht erinnerlich, ob Du dasjenige in Deinen Schriften aus Goethe angeführt hast, was derselbe über „Glauben und Wissen“ in „seinem Leben (Wahrheit und Dichtung)“ dritten Theil Duodez Ausgabe, 1829. Bd. 26. pag. 272 sagt: „Beim Glauben komme alles darauf an, daß man glaube etc.“ Diese Stelle hatte ich gerade gelesen, als ich vorigen Sommer in Wildbad von einer Dame gebeten wurde, für Jemanden, der Autographien sammle, um etwas von meiner Hand zu erhalten. Ich schrieb die Stelle aus Göthe über Wissen und Glauben ab mit der Bemerkung, daß ich, wenn ich um meine Meinung über die Darwin’sche Lehre gefragt würde, mit dieser Stelle Göthe’s antworten müsse. Später erfuhr ich, daß dieses von mir geschriebene Blatt für einen protestantischen Prediger mit orthodoxer Richtung bestimmt war, was mich nicht im geringsten veranlasste, die niedergeschriebenen Worte zu bereuen.
So oft ich übrigens Deine Bemerkung über die sittliche Weltordnung und von der vielgerühmten Allgüte || des Schöpfers lese, fällt mir unwillkürlich wieder Goethe ein, wie derselbe bei dem Erdbeben von Lissabon den Eindruck beschreibt (ebenfalls in seinem Leben Bd. 24. pag. 43), den er als Knabe bei der Nachricht empfunden.
Wie lange wird es aber noch dauern, bis alle diese Vorurtheile, abergläubischen Denkgeister, die so tief im Blut sitzen und sich seit vielen Jahrhunderten vererbt haben, von den Menschen abgestreift sein werden. Erinnere Dich doch des Gesprächs, was wir hier mit dem Sprachforscher Max Müller gehabt, der uns in seinen Schriften die Entstehung der Sprache so korrekt entwickelt zu haben schien, bis wir auf den Punkt ankamen, wo die direkte Forschung aufhören mußte und nun Max Müller sich nicht weiter zu gehen getraute, mit der Phrase sich beruhigend: die Sprache war in ihrer Einfachheit auf einmal da. Als wir ihm weiterhelfen wollten, wies er jede Vermuthung über die frühere Entwicklung der Sprache zurück, so daß Du in Aufregung ihm zuzurufen Dich gezwungen sahst: „Kennen Sie denn nicht jene Erscheinung, die man Entwicklung nennt, giebt es denn für Sie nicht ein Etwas, das man Entwicklung nennt?“ Müller verstand diese Frage, wie mir schien, nicht im entfernstesten. ||
Mit Interesse habe ich übrigens den Separat-Abdruck aus Deiner wichtigen Schrift über Calkschwämme gelesen, ich danke Dir herzlich dafür.
Wie beneide ich Dich um die Osterreise, die Du Dir vorgenommen hast. Am rothen Meere wirst Du gewiß viel neues Objekt finden mit dem Du den Zoophyten-Stammbaum noch um vieles wirst vervollständigen können.
Ich werde mich zu Ostern zu Hause halten müssen, da es meine Gicht mir nicht mehr erlaubt, in der frühen Frühlingszeit, wo man vor Schnee und Frost noch nicht sicher ist, eine Reise zu unternehmen. An Beschäftigung fehlt es mir auch zu Hause nicht, indem es mir geglückt ist, die interessante parthenogenetische Artemia, welche ich mir aus Triest habe kommen lassen, auf meinem b Zimmer mit Hülfe von künstlichem Seewasser aus dem Schlamm, welcher eine Menge abgesetzter Eier enthielt, und welche sich alle entwickelten, in Menge zu erziehen. Die erhaltene Generation ist männerlos, auch die aus den Eiern des Schlammes erhaltenen Jungen haben mir nichts als Weibchen geliefert, die bereits Eier abgelegt haben, ich bin nun äußerst begierig, ob dieselben Brut liefern werden.
Indem ich Dich bitte, mich Deiner lieben Frau bestens zu empfehlen, füge ich auch im Auftrage meiner Frau, welche c für Deine Grüße schönstens dankt, die freundlichsten Grüße für Dich und Deine Frau Gemahlin bei.
In freundschaftlichster Ergebenheit
Dein
v. Sieboldd
a eingef.: immer; b gestr.: Züchter; c gestr.: sich; d Text weiter am unteren Rand von S. 1: für Dich … v. Siebold