Richard Semon an Ernst Haeckel, München, 10. Mai 1916

HOHENZOLLERNSTR. 130

MÜNCHEN

10/V 16.

Hochverehrter Herr Professor.

Ich danke Ihnen herzlichst für die Übersendung Ihrer historisch-kritischen Studie: Fünfzig Jahre Stammesgeschichte, sozusagen einer Festschrift zum 50. Geburtstag Ihrer Generellen Morphologie. Ja, jetzt nach 50 Jahren kann man mit absoluter Sicherheit sagen, dass die Basis Ihrer empirisch begründeten Phylogenie unerschütterlich fest begründet ist, und noch dazu begründet nach den Richtlinien, die Sie vor 50 Jahren schon in allen wesentlichen Punkten richtig erkannt, und deren immer vollkommnere Durcharbeitung schliesslich auch in der Hauptsache durch Sie erfolgt ist. Der Einblick in || die Stammesgeschichte der Lebewesen wird für alle Zukunft das feste Gerüst darbieten, auf das sich das Verständniss aller Lebenserscheinungen aufzubauen hat, die Basis a nicht nur für vergleichende Anatomie sondern auch für vergleichende Physiologie und Psychologie und somit, wie Sie am Schlusse Ihrer Schrift sagen, überhaupt die Basis für den physikalisch begründeten Monismus.

Durch Ihre Schwiegertochter hörten wir vor kurzem Gutes über Ihr Befinden, und meine Frau hatte Gelegenheit, sich über das prächtige Gedeihen und vielversprechende Entwicklung Ihres Enkelsohns zu freuen.

Es scheint ja nun, als ob ein offener Konflikt mit Amerika vermieden werden könne, was ich freudig begrüsse, weil es mir scheint – schwer zu beurteilen –, || als ob der Faktor dieses neuen sehr mächtigen Feindes, doch schwerwiegender sei als der Verzicht auf eine rücksichtlose Durchführung des Unterseebootkrieges. Allerdings ist es sehr schwer, da tüchtig abzuwägen. Und jedenfalls ist es eine bittere Pille, die Überhebung, Heuchelei und freche Haltung Wilsons und seiner Leute zu schlucken. Aber da es die Sache will, muss es nun eben sein, und ein gutes wird auch dies haben: das Liebeswerben um fremde Gunst, worin wir und besonders der Kaiser früher viel zu viel getan haben, werden wir nun hoffentlich für alle Zeit verlernen. – Wenn der Konflikt mit Amerika dauernd zu vermeiden ist, glaube ich kaum, dass die Russen und Franzosen (und ihnen werden sich die Italiener anschliessen) || den Krieg bis in den Winter hinaus ausdehnen werden. Es wird doch wohl den Engländern unmöglich sein, sie länger als bis zum Herbst bei der Stange zu halten, wenn die Lage sich bis dahin nicht zu ihren Gunsten geändert hat und auch durchaus keine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dass sie sich noch ändern wird. Ich denke also, dass der schreckliche Rückfall in scheinbar längst überwundene Zeiten der Phylogenie des Menschengeschlechts in absehbarer Zeit seinem Ende entgegengehen wird.

Mit vielen herzlichen Grüssen von meiner Frau und mir

stets Ihr Sie treu und dankbar verehrender Schüler

Richard Semon.

Den Tod des vortrefflichen Hermann Giltsch beklagen wir sehr und haben inniges Mitgefühl mit der jungen Witwe und besonders auch mit der armen Mutter.

Brief Metadaten

ID
15063
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
10.05.1916
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,4 x 21,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15063
Zitiervorlage
Semon, Richard Wolfgang an Haeckel, Ernst; München; 10.05.1916; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15063