Richard Semon an Ernst Haeckel, München, 18. Dezember 1913

HOHENZOLLERNSTR. 130

MÜNCHEN

18/XII 13.

Sehr verehrter Herr Professor.

Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Das Vorgehen Plates bei der Behandlung Ihrer Sammlungen, vor allem die Beseitigung Ihres Namens von den Etiketten finde ich unsäglich widerwärtig, auch wissenschaftlich ganz unzulässig, denn es kann später einmal gradezu von Bedeutung sein, festzustellen wer ein bestimmtes Objekt gesammelt hat. Und würde nicht in ein- oder zweihundert Jahren jeder spätere Naturforscher von Ehrfurcht ergriffen und erhoben sein, wenn er weiss: das Objekt, was ich in da in meinen Händen halte, hat Ernst Haeckel gesammelt und dies vergilbte Etikett ist von seiner Hand || beschrieben! Und Ausfluss derselben Charakterschönheit ist die Überschrift: „Phylogenetische Regel“ über dem betreffenden Schrank Ihres phyletischen Museums: „Shameful“ wie die Engländer und schamlos, wie wir Deutschen sagen! Doch im Grunde nur bestimmt, Ihnen einen Streich zu spielen und Sie zu ärgern, was ihm aber hoffentlich auf die Dauer nicht gelingt. Plate und seinesgleichen vergehen, aber das phylogenetische Grundgesetz besteht und wird bestehen, wenn die augenblickliche Welle in der Biologie, die die unvergänglichen Felsen der vergleichenden Morphologie überspült und scheinbar zum Verschwinden bringt, längst vererbt sein wird und nur eine historische Bedeutung haben wird als ein unbegreifliches Denkmal wissenschaftlicher Kurzsichtigkeit und || Verblendung. Neulich stiess ich wieder einmal zufällig auf O. Hertwigs Schlussartikel in seinem grossen Handbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere: Über die Stellung der vergleichenden Entwicklungslehre zur vergleichenden Anatomie, Systematik und Deszendenztheorie (biogenetisches Grundgesetz, Palingenese und Cenogenese). Was ist das alles für ein törichtes Gerede, eines sonsta so scharfen und klaren Geistes wie O. Hertwig gänzlich unwürdig! Glaubt er etwa nicht selbst, dass die Anlage von Zähnen b in der Ontogenie der Bartenwale, der Monotremen usw. nicht anders erklärt werden kann als durch den Umstand, dass die Vorfahren dieser Tiere Zähne besessen haben? Haben nicht ferner Sie selbst von Anfang einer kritiklosen Ausdeutung des biogenetischen Grund-||gesetzes durch Aufstellung des Begriffs der Caenogenese c vorgebeugt und sind nicht später Sie im Verein mit Gegenbaur einer in praxi hervortretenden Überschätzung der ontogenetischen Zeugnisse, wie die von Dohrn und anderen beliebt wurde, auf das schärfste entgegengetreten? Was will er also? Ich kann darauf, nur eine Antwort geben: besser wissen! Und was ist das Resultat? Verwirrung einer von Anfang an durch Sie vollkommenen geklärten Sachlage! Die späteren Geschichtsforscher der Biologie werden darüber keinen Zweifel bestehen lassen.

Ich sende Ihnen beiliegend das von Fürbringer verfassted Kollektivschreiben an G. Fischer, mit dem Sie, wie ich hoffe, einverstanden sein werden. Ich möchte Sie bitten, Ihre Unterschrift über diejenige von Fürbringer zu setzen. ||

Nun da das Reisewerk vollendet vorliegt und wir G. Fischer unseren Dank aussprechen, möchte ich aber auch wiederum die Gelegenheit ergreifen, Ihnen, dem ich für so unendlich vieles zu unvergänglichem Danke verpflichtet bin, auch für Ihre gradezu entscheidende Unterstützung meiner ganzen Reise sowie des nun vollendet vorliegenden Reisewerks zu danken, das ohne Sie und Fürbringer niemals in dieser Vollendung zu Stande gekommen sein würde. Innigsten, tiefgefühltesten Dank auch dafür.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie aber doch noch um ihrem Rat bitten, den Sie mir ja in wenigen Worten geben können. Es läge natürlich nahe, || dass ich jetzt auch an Herrn v. Ritter schriebe, der Reise und Reisewerk so wirksam und opferwillig unterstützt hat, und dem ich auch in meinem Herzen dafür aufrichtig Dank weiss. v. Ritter hat sich ja aber leider ganz von uns abgewandt, er hat nicht nur uns sondern auch unsere Sache verlassen und hat siche Ihnen gegenüber zu den empörendsten Schritten fortreissen lassen. Seit über 15 Jahren stehe ich ausser jeder Verbindung mit ihm und habe nicht die mindeste Neigung die Verbindung wieder anzuknüpfen. Auf sein ganzes Verhalten Ihnen und unserer Sache gegenüber giebt es meiner Ansicht und meinem Gefühl gegenüber nur eine Antwort: Schweigen, und dem gegenüber hat sogar die Stimme der || Dankbarkeit zu verstummen. So möchte ich auch jetzt handeln, und nur wenn Sie es für unumgänglich notwendig halten, würde ich jetzt auch hm einen Dankesbrief schreiben. Ich muss gestehen, dass ich befreit aufatmen würde, wenn Sie mit mir übereinstimmen und mein Schweigen auch bei dieser Gelegenheit billigen würden.

Indem ich Ihnen und den Ihren ein frohes Weihnachtsfest und glückliches neues Jahr wünsche, bin ich Ihr in tiefster Dankbarkeit und grösster Verehrung ergebener

Richard Semon.

a eingef.: sonst; b gestr.:xxx xxx; c gestr.: von Anfang an; d eingef.: von Fürbringer verfasste; e korr. aus irrtüml.: sich hat

Brief Metadaten

ID
15056
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
18.12.1913
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
13,5 x 21,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15056
Zitiervorlage
Semon, Richard Wolfgang an Haeckel, Ernst; München; 18.12.1913; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15056