Richard Semon an Ernst Haeckel, München, 5. Februar 1907

München | Karlsstr. 1I | Pension Schwarz

5/II, 07.

Hochverehrter, lieber Herr Professor.

Wir wurden gestern sehr durch die Grüsse erfreut, die uns Dr. Leo Schultze von Ihnen überbrachte, und durch die guten Nachrichten, die er uns über Ihr Befinden mitteilte. Von dem Museumsplan sind auch wir ganz begeistert. Ein grossartiger Gedanke, der sicher unter Ihrer Leitung die schönste, fruchtbarste Verwirklichung erfahren wird, und ein neues Moment ist, um die ganz eigenartige Stellung Jenas in der modernen Biologie dauernd zu fixieren. Zu denken, dass dort das erste phylogenetische Museum, das es überhaupt auf der Welt giebt, in Erscheinung || treten wird! Es freut mich, wenn ich daran denke. – Leo Schultze hat uns persönlich ganz ausgezeichnet gefallen, so frisch, energisch, zielbewusst, intelligent und auf das Ganze gerichtet. Sein Vortrag im Verein für Naturkunde war ganz vorzüglich. Er besitzt ja eine ungewöhnliche Rednergabe, und hatte ausserdem seinen Vortrag so wunderbar disponirt, dass es ihm gelang, im Laufe einer Stunde ein meterologisch-geologisch-floristisch-faunistisches Kabinettstück erster Ordnung zu entwerfen. Es herrschte denn auch nur eine Stimme der Bewunderung. Einer der besten Vorträge dieser Art, den ich je gehört habe. Es ist mir eine wahre Herzendfreude zu denken, dass Sie dieses vorzügliche Specimen von homo || sapiens zoologicus bei sich in Jena haben, und dass er so treu zu Ihnen steht und Sie wirklich liebt. Nachdem Sie soviel Enttäuschungen an Schülern erlebt haben, ein höchst erfreulicher Lichtblick. Nach diesem Vortrag glaube ich bestimmt, dass von Schultze noch Bedeutendes zu erwarten ist, vielleicht sogar Grosses.

Uns geht es gut. Mitte März hoffen wir in unser neues Heim (in Schwabing) ziehen zu können. Ich freue mich sehr auf die dort winkende, ganz ungestörte Arbeitsruhe, mit der es während der letzten 1 ¾ Jahre doch oft gehapert hat. Über meine Arbeitspläne würde ich gern einmal mit Ihnen mündlich [mich] unterhalten.

Hoffentlich sehen wir Sie in diesem Sommer oder Herbst in München. ||

Es sind nun bald drei Jahre, dass wir Sie nicht gesehen haben und wir sehnen und sehr nach einem baldigen Wiedersehen.– Meine Schrift über Vererbung erworbener Eigenschaften, in der ich gründliche mit Weismann abrechne, erscheint im März. Dass ich dabei auch Ihren Heinrich Ernst Ziegler zause, werden Sie mir hoffentlich nicht übernehmen.

Mit vielen herzlichen Grüssen von meiner Frau und mir

Ihr stets treu und dankbar ergebener

Richard Semon.

Es würde mich interessiren, zu erfahren, ob Herr v. Ritter noch lebt, und wenn ja, ob er wieder vernünftig geworden und sich Ihnen wieder genähert hat. Vielleicht schreiben Sie mir darüber in Ihrem nächsten Briefe.

Brief Metadaten

ID
15019
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
05.02.1907
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,9 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15019
Zitiervorlage
Semon, Richard Wolfgang an Haeckel, Ernst; München; 05.02.1907; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15019