Richard Semon an Ernst Haeckel, Torbole, 29. September 1905

Torbole, Hotel Gardasee

29/IX 1905

Hochverehrter Herr Professor.

Ihr eben angekommener Brief vom 27. hat uns hoch erfreut, obwohl er leider nicht durchaus befriedigende Nachrichten über Ihr Befinden in diesem Sommer und Herbst brachte. Solche rheumatische Beschwerden sind ja etwas überaus tückisches und hartnäckiges und können einem zeitweilig gradezu das Leben verbittern. Deshalb sehnen Sie bei Ihrer ungeheuren Lebens- und Schaffenskraft, noch in der Mitte Ihrer Herkulesarbeit stehend, doch hoffentlicha nicht ernstlich den Übergang in Nirwana herbei. Sie hinterlassen ja schon || unzählige unsterbliche Engramme in den Geistern Ihrer Mitmenschen und der kommenden Generationen. Vorläufig ist aber diese Ihre engraphische Arbeit noch nicht abgeschlossen, und wir erwarten von Ihrem unersetzlichen originellen Geist noch viele Originalreize, die uns kein Anderer bringen kann.

Es hat mich unbeschreiblich gefreut, dass die „Mneme“ auch bei genauerem Studium vor Ihrem Urteil Stand gehalten hat. Ich arbeite jetzt eifrig am weiteren Ausbau des Bisherigenb, das wenig mehr ist als ein blosses Gerüst, und hoffe, dass sich da noch weiter die Durchführbarkeit der Gedankengänge und die Möglichkeit, sie für weitere Erkenntnissgebiete fruchtbar zu machen, ergeben wird. Bisher || ist freilich die Beachtung, die die Arbeit bei den biologischen Fachgenossen (Zoologen, Botanikern, Physiologen und Psychologen) gefunden hat, eine ganz überaus geringe. Lebhaftes Interesse scheint sie ausser beic Ihnen nur noch bei Forel und Mach (und sonderbarerweise noch bei einem unbedeutenden unklaren Vitalisten Karl Camillo Schneider, der einen sehr komischen Artikel darüber in d. Preussischen Jahrbüchern v. Delbrück veröffentlicht hat) erweckt zu haben. Doch den trefflichen Bölsche darf ich nicht vergessen, der, obwohl nicht offiziell vom Fach, doch mehr von Biologie versteht, als ein Dutzend gewöhnlicher Ordinarien zusammengenommen. Er hat das ganze ganz famos und durchaus eigenartig, dabei ohne jedes Missverständniss, populär dargestellt in einer Artikelserie in d. deutschen Welt (Wochenschrift d. deutschen Zeitung, Berlin). Es stellt meiner Ansicht noch eins der || besten Essays dar, die Bölsche geschrieben hat, und wird, wie ich hoffe, dazu beitragen, das allgemeinere Interesse etwas zu wecken, wenn es mit in seiner nächsten Essaysammlung erscheinen wird. Ihre Ratschläge, mein eigenes Buch etwas lesbarer zu gestalten, werde ich mir gewissenhaft und dankbar zu Herzen nehmen, wenn je eine zweite Auflage notwendig werden wird. Aber wird das je der Fall sein? Vorläufig scheint keine Rede davon zu sein. –

Mit Heinrich haben wir hier einen zwar verregneten aber gemütlich und gedanklich sehr genussreichen Tag verlebt und dabei natürlich Ihrer immer wieder gedacht. Heinrich ist doch ein prächtiger Mensch. Hoffentlich erfüllt sich ihm noch sein letzter Wunsch: eine glückliche Ehe mit einem harmonirenden weiblichen Wesen. Beruflich ist er ja voll ausgefüllt und befriedigt.

Wir bleiben noch jedenfalls bis tief in den November hinein hier. Wohin dann ist noch unbestimmt. Wir schwanken noch besonders zwischen Bordighera und Ajaccio, verhalten und aber auch sonst in dieser Beziehung wie die bekannten grauen Einhufer zwischen zahlreichen Heubündeln. – Mit vielen herzlichen Grüssen von meiner Frau und mir und besten Wünschen für Ihre Gesundheit Ihr dankbar und treu ergebener

Richard Semon.

a eingef.: doch hoffentlich; b korr. aus: bisherigen; c eingef.: bei

Brief Metadaten

ID
15009
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Torbole (am Gardasee)
Entstehungsland aktuell
Italien
Entstehungsland zeitgenössisch
Österreich-Ungarn
Datierung
29.09.1905
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
12,7 x 17,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 15009
Zitiervorlage
Semon, Richard Wolfgang an Haeckel, Ernst; Torbole (am Gardasee); 29.09.1905; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_15009