Carl Heinrich Thiele an Ernst Haeckel, Solln, 19. Oktober 1918

Solln 19. October 1918

Hochverehrter Herr Professor, teuerster Meister!

Die politische Lage, der Zusammenbruch Deutschlands und der Sieg meiner von Anfang des Krieges an gehegten Anschauungen veranlaßt mich Ihnen heute, nach langer Zeit wieder, ein Lebenszeichen zu senden. Mit einerseits tiefer Trauer, andrerseits höchster Befriedigung stelle ich fest, daß all die Begeisterung im August 1914, all der Heldenmut dieser vier Jahre, all die Opfer an edlem, hochwertigem Menschenmaterial die Folgen eines ungeheuren, verbrecherischen Betruges gewesen sind. Wenn man auch heute nur erst bis zu Tirpitz’s Schuld vorgedrungen ist, es wird nicht mehr lange dauern, so wird man auch die früheren Urheber, die Anstifter dieses verfluchten Krieges öffentlich bloßstellen und hoffentlich – zur Verantwortung ziehen. Es ist wohl noch nicht in der Weltgeschichte dagewesen, daß ein ganzes Volk so betrogen und gemißbraucht wurde, wie das deutsche || Volk 1914! Das ist nur möglich gewesen durch schon lang vorher betriebene systematische Hetze gegen England und gegen den Pazifismus! Es ist heute absolute Tatsache, daß wir alle Verständigungs- und Annäherungsversuche Englands schnöde und böswillig zurückgewiesen haben, ebenso wie seinen Vermittlungsvorschlag Grey’s am 31. Juli 1914. England ist absolut unschuldig und steht rein da in der Geschichte des Kriegsursprungs. Ebenso Wilson der 1916 gern Friedensstifter geworden wäre, wenn wir gewollt hätten d. h. Ludendorff und Genossen. Haben Sie, hochverehrter Meister, das herrliche – natürlich verbotene! – Buch Nicolais über „die Biologie des Krieges“ gelesen? Darin steht alles Nöthige, was man wissen sollte. Es ist so tief zu beklagen, daß unsere gesamte geistige Elite in diesem Kriege so völlig versagt und dadurch dazu beigetragen hat, uns || in den Augen des Auslandes noch mehr zu mißtrauen. Beinahe hoffnungslos scheint das Unterfangen, wieder Vertrauen für uns zu erwerben! Wäre es da nicht wundervoll und herrlich, wenn von Ihnen, hochverehrter Meister, ein neuer Ruf erschallte zur Selbstbesinnung der Deutschen! Es wäre besser, wir sagten es rund heraus, daß wir jetzt eingesehen haben, wie wir von unsern Führern betrogen und irregeführt wurden, als daß wir uns bis in alle Ewigkeit von dem Ausland als arme „Ueberfallene“ und „Eingekreiste“ hinstellen! Ein Ruf von Ihnen würde nicht nur unser gesunkenes Ansehen wieder heben, nein, auch dem Menschenbund wieder neue Kräfte einflößen und wachsend für ihn wirken. Darum, hochverehrter Meister, richte ich an Sie die herzlichste, dringende Bitte: Machen Sie das wieder gut, was unsere Intellektuellen uns draußen geschadet haben, verleugnen Sie die Gemeinschaft mit Tirpitz und Konsorten || und bekennen Sie sich zu dem ganz neuen, freien, demokratischen Deutschland, wie es jetzt in den Geburtswehen liegt. Fort mit Chauvinismus, Nationalismus, Militarismus und hin zum Völker- und Menschenbund!

In diesem Sinne begrüße ich Sie nach wie vor in treuer, unwandelbarer Verehrung und Liebe als Ihr einstiger Schüler und Jünger

CH. Thiele

Brief Metadaten

ID
13098
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
19.10.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 22,3 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 13098
Zitiervorlage
Thiele, Carl Heinrich an Haeckel, Ernst; Solln (München-Solln); 19.10.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_13098