Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 15. Januar 1897

Wien, 15. Jänner 1897.

Hochverehrter Meister!

Herzlichsten Dank für den lieben Neujahrsgruss, der mir eine aufrichtige Freude bereitet; hat er mich doch erkennen lassen, dass Sie der düsteren Stimmung der entwichenen Monate wenigstens zum Theile Herr geworden! Der sonnige Himmel Italiens und der Donnergruss des Oceans, dem Sie so viele Geheimnisse abgefordert, werden ihr letztes thun, und Sie innerlich ganz frei machen, wie Sie es brauchen, um wieder || der alte Haeckel zu sein! Es geht doch nichts über Stimmung und Schaffenslust; über das Mitsichfortreißende einer Arbeit oder Idee, die uns so ganz gefangen nimmt, uns die Zeit und alle Umstände vergessen macht, und alles im Leben und am Leben wieder so neu, so jung und sonnig erscheinen lässt! Freilich folgen dann immer wieder ebensoviele düstere oder verzagte Stunden; aber in den meisten Fällen ist das doch nur die natürliche Reaction, die zur Erde lastende Schwere, mit der man sich, wenn man einmal die Flügelwonne großer Stunden genossen, nicht mehr so leicht befreunden will. Und doch geschieht || uns da nichts Schlimmeres, als dem alten Antäus; man ruht aus und sammelt neue Kräfte; das bisserl „Brummen“ und „Nipfen“ gehört dazu. Da war ich wieder einmal echt wienerisch. Aber ich wollt’, ich könnte Sie – und nicht nur aus dem einen Grund – auf diesen Standpunkt kriegen! Vielleicht gelingt es mir am Gardasee, Sie heiterer zu stimmen, wo Sie den Führer machen werden, wie wir auf meinem unvergessenen, einzigen Mönchsberg! –

Ich habe bis jetzt mit Anspannung aller Kräfte an einem Drama gearbeitet, das ich in den nächsten Tagen fertig || zu kriegen hoffe. Vielleicht bring’ ich es auch heuer noch auf die Bühne. Sie werden lächeln, wenn ich Ihnen sage, dass mein Stoff, obwohl ganz in der Wirklichkeit wurzelnd, seiner Stimmung und seinem Leitmotiv nach (ich finde keinen besseren Ausdruck als den Richard Wagners), im Zeichen des „dämonischen“ steht. Ich bringe da, auch psychologisch, etwas ganz Neues auf die Bühne, einen Conflict innerlichster Natur, für den es mir gelungen ist, die Wirklichkeit selbst als Symbol zu fixiren. Da mich die, fast unheimliche Stimmung auch keinen Augenblick verließ, darf ich sagen, dass das || Ganze geworden, was ich gewollt, und dabei von dramatischem Leben strotzt. Wenn mir im letzten Augenblick nur nicht die, jetzt schlimmer denn je geübte Censur ein Stückchen spielt. Denn die richtigen Kräfte für diese Arbeit hat doch nur unser einziges Burgtheater!

Wie gerne, hochverehrter, lieber Meister, hätt’ ich Ihnen schon mein Bild geschickt, denn das, meinen Gedichten beigeheftete, ist in der That elend, das andere nicht mehr ich. Aber wir haben seit Wochen hier ein so trübes Nebelwetter, sozusagen eine constante Abenddämmerung, || dass an die Aufnahmen eines Bildes gar nicht mehr zu denken ist, und dieses soll gut und vollkommen werden! Ist’s im nächsten Monat schöner, so bekommen Sie mein Bild nach Messina – wenn Sie wollen, wenn nicht, soll es Sie nach Ihrer Rückkehr auf heimatlichem Boden wieder begrüßen!

Ihr „Paradies“ in Jena gefällt mir sehr; aber mir scheint, es ist ein gut Stück zu nördlich auf die Erde gefallen. Dafür mussten Sie am Katholikentag Buße thun! Wissen Sie, dass ich mir, noch ehe Sie’s sagten, gedacht, dass Sie einmal in irgend einem Vorfahr in Österreich gewurzelt || haben müssen? Das Österreicherthum lacht Ihnen ja aus den Augen!

Hab’ ich wieder genug geschwatzt? Zuviel, wie die in Angriff genommene 7. Seite mich belehrt. Hätt’ ich Ihnen nur eine helle Stunde damit gemacht! Aber das bleibt zunächst jetzt unserem lieben Italien vorbehalten. Mög’ es recht viel Sonne haben für Sie, aber beileibe keinen Katholikentag!

Dies wünscht

Ihre

treu u. wandellos ergebene

Eugenie delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
15.01.1897
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 13
ID
13