Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 28. Dezember 1896
Wien, 28. 12. 1896.
Hochverehrter Meister!
Hätt’ ich nicht meine Tanne zu schmücken gehabt, beim Kuchenbacken mitgeholfen und die mehr oder minder geräuschvolle Festtagsgeselligkeit über mich ergehen lassen müssen – wär’ dieser Brief wie ein Pistolenschuss auf Ihr Schreiben an Prof. Müllner zurückgeflogen! Sie machen nämlich eine ganz verflixte – entschuldigen Sie den wienerischen Kraftausdruck – Bemerkung drin, die mir, in ihrer Ungerechtigkeit einen || a Augenblick wie eine Kralle über’s Herz gefahren ist. Freund Müllner frug mich, mit leisem Vorwurfe, warum ich denn Ihr letztes Schreiben solang unbeantwortet gelassen? Sie hätten in Ihrem werten Briefe an ihn eine Andeutung gemacht. Er reichte mir den, trotz Allem so lieben Brief, u. da musst’ ich denn allerdings zu meinem Erstaunen lesen, dass Sie von meinem Schweigen den Ausdruck gebrauchten, eine Dichterin wie ich, hätte Besseres zu thun, als ihre Zeit mit Briefeschreiben zu vergeuden. Nun bitt’ ich aber um etwas Gerechtigkeit. Wer hat in seinem letzten Briefe – der mich übrigens so glücklich und stolz gemacht, wie schon lange Nichts, geäußert, dass dies auf lange hinaus der letzte sein werde, || weil Sie selbst Ihren besten Freunden nur sechs bis achtmal im Jahr schreiben? Haben Sie das schon vergessen? Und musst’ ich mich da nicht meiner vierzehntägigen Redseligkeit schämen? Es war bitter genug, Sie dürfen mir’s glauben … und so ließ ich denn, dem Beispiel des berühmten Autors der „Indischen Reisebriefe“ folgend, jeden Tag ein „Gedankenschiffchen“ nach Jena abgehen, und dachte mir das tiefe, tiefe Wasser dazu. Dass ich aber für diesen Gehorsam noch in ironischer Form einen Verweis erhalte, das allerdings hab’ ich mir nicht träumen lassen. Wie sollt’ ich mich da rächen? Offenbar durch einen Brief, und da ist das Verhängnis, das Sie selbst heraufbeschworen. Ich verschicke keine || blaue Bogen, auch nicht zum Spass! Und jetzt bin ich neugierig auf Ihre Antwort. –
Die Berufung Prof. Hatschek’s hat uns mit herzlicher Freude und Genugthuung erfüllt; endlich wird die Naturwissenschaft in Wien auf Ihren Ton gestimmt. Und damit ist wieder viel gewonnen! Den Brief Hatscheks send’ ich gelegentlich zurück. Tief gerührt hat mich seine warme Freundschaft und Treue für Sie. –
Also im Frühling geh’n Sie nach Italien! Was gäb’ ich drum, könnten wir’s auch! Unser Herbstprogramm allerdings schließt es mit ein. Wir wollen den Juli und August wieder in meinem geliebten Salzburg verbringen, dann nach Tirol fahren, an den Seen herumschweifen, und Mitte September nach Venedig u. Florenz. Hätten || Sie, verehrter, lieber Meister, nicht auch einmal wieder Lust, den Gardasee zu sehen? Wenn’s auch Nichts für Ihr „pelagisches“ Netz dort gibt? Es wäre zu schön, und Prof. Müllner u. ich wären glücklich über ein Wiedersehen. –
Das reiche Lob, das Sie meiner „Moralischen Walpurgisnacht“ spenden, das tiefe Verständnis, mit dem Sie in Ihrem Schreiben an Prof. Müllner davon sprechen, war mein liebstes Weihnachtsgeschenk! Anfangs fürchtete ich fast, Sie könnten meinen Pseudo-Ausfall gegen den Darwinismus mißverstehen. Aber Sie wussten ganz gut, dass ich nur nach socialem Mulder || ausgegangen war. –
Der Himmel lacht sonnengoldigb u. blau über die Palmen meines Erkersalons auf dies Papier hernieder – und ich wollte, ich könnte ein fortleuchtendes Stück davon in meine Wünsche für Sie einfangen! Ein neues Jahr geht an; Sie haben, verehrter Meister, ein Riesenwerk zu Ende gebracht, und der Gedanke ist auch eine Sonne! Mög’ Sie Ihnen die jungen Tage des neuen Jahres beleuchten, u. nicht ganz die vergangenen in den Schatten stellen! Denn die Sonne des Moenchsbergs war doch auch unvergesslich schön, wenigstens für Ihre, in wandelloser Verehrung zeichnende Schülerin
Eugenie delle Grazie.
a irrtüml. doppelt: einen; b irrtüml.: sonnengeltig