Otto Zacharias an Ernst Haeckel, Görlitz, 29. November 1875

29. Nov. Görlitz 1875

Geehrtester Herr Professor!

Ihre lehrreiche Schrift über die Gastrula u. die Eifurchung der Thiere hat mich zu den verschiedensten Betrachtungen angeregt; ganz besonders ist meine Phantasie aber gegenwärtig mit dem Processe der Artenmodification selbst beschäftigt. Ich empfinde mannigfache Schwierigkeiten, wenn ich mir (in concreto) einen eclatanten Fall von Abänderung vorstellen will. Sie würden mir einen großen Gefallen thun, wenn Sie mir nur einige Fingerzeige gäben, durch die ich aus dem Labyrinthe herauskommen kann.

Da ich mich nicht gern mit Allgemeinheiten u. vagen Begriffen abgebe, nehme ich einen ganz bestimmten Fall an –, z. B. einen augenlosen, höhlenbewohnenden Käfer – u. frage: wie ist die Verkümmerung des Sehorganes successive vor sich gegangen?! Wie hat sich beispielsweise bei Anophthalmus capillatus || an die Stelle des Auges eina Hügelchen mit einem Tasthaare gesetzt?!

Angenommen daß eine solche Modification nicht plötzlich auftritt, sondern nur durch generationenlang fortgesetzte Abänderungen zu Stande kommt – das angenommen – so frage ich: wo ist der Angriffspunkt für den Modificationsproceß: im elterlichen (im allgemeinen) noch unmodificirten Körper oder im Embryo oder gar schon im Protoplasma des (den neuen Lebensbedingungen ausgesetzten) Eies. Nach meiner Ansicht u. nach den Anschauungen, die ich mir angeeignet habe, ist der elterliche Körper nur in einem sehr beschränkten Grade modificationfähig; am allerwenigsten könnte sich eine solche Modification auf hochdifferenzierte Organe, wie die Augen, erstrecken. Es ist also nur anzunehmen daß die neuen Lebensbedingungen: (Dunkelheit, Luftveränderung, Temperaturconstanz etc.) auf den Geschlechtsapparat der noch || unmodificirten elterlichen Organismen der Art wirken, daß die Folge davon eine minimale Veränderung des Embryos ist, der aus der Vereinigung eines solchen Elternpaares hervorgeht. Der Modificationsproceß einer Art würde also (nach meiner Ansicht) vorzüglich sich am Embryo zeigen u. das reife Individuum würde nur im verstärktem u. vergrößertem Maaßstabe die Modificationen zur Schau tragen. Natürlich ist hier nur von Embryonen die Rede, die sich in der tertiären u. in der heutigen Zeit entwickeln, da in früheren geologischen Epochen auch eine größere Biegsamkeit der reifen Organisation (vorzüglich bei niederen Thieren) vorausgesetzt werden muß. Ich schiebe also den Angriffspunkt der Artenveränderung u. Artenentstehung auf das Studium der embryonalen Entwicklung, weil mir zu diesem Zeitpunkte die Zellen einb üppigeres Wachsthum u. eine größere Anpassungs-||fähigkeit zu haben scheinen, wie in erwachsenen Zustande des von ihnen zusammengesetzten Thierkörpers. Hieraus mache ich nun den weiteren Schluß, daß wir viele Uebergänge in der phylogenetischer Reihe gar nicht aufzufinden im Stande sind, weil diese Mittelglieder durch embryologische Stadien repräsentirt werden, die naturgemäß in dem reifen, weit höher entwickelten Organismus, nicht mehr zum Ausdruck kommen konnten. Diesem Gedankengange zufolge dürfte nun als variabelstes Stadium der embryonalen Entwicklung der Gastrula-Zustand angenommen werden u. die veränderten Lebensbedingungen würden ihren Einfluß am meisten bei der embryonalen Gastrulation geltend machen, da von dieser aus eine fundamentale Einwirkung auf alle übrigen Lebensprocesse des entstehenden Thieres auszugehen scheint. Die Gastrula ist nach meiner Ansicht der Ursitz aller der Processe, von denen die Correlation der Thiere im reifen u. entwickelten Individuum || abgeleitet werden muß.

Ich gebe zu, daß es sehr schwer ist, den Nachweis für die obigen hypothetischen Darlegungen zu erbringen: aber ich sehe zunächst keine Möglichkeit für andere Annahmen u. Erklärungsweisen.

Sie würden mich – wie gesagt – sehr verbinden, geehrter Herr Professor, wenn Sie mir nur in einigen Zeilen andeuteten, ob ich auf der falschen Fährte bin, oder ob ich auf diesem Wege meine Reflexionen fortsetzen kann. Es ist mir total unmöglich ein Buch zu lesen, ohne die darin enthaltenen Ideen in meinem Sinne umzuformen. Manchmal kommt bei dieser Sinnesformation auch Unsinn heraus u. um zu erfahren ob dies auch diesmal der Fall ist, schrieb ich Ihnen diese flüchtigen Zeilen.

Ihr ganz ergebener Zacharias.

a gestr.: einem; eingef.: ein; b gestr.: eine; eingef.: ein

Brief Metadaten

ID
11879
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
29.11.1875
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
5
Umfang Blätter
3
Format
14,1 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 11879
Zitiervorlage
Zacharias, Otto an Haeckel, Ernst; Görlitz; 29.11.1875; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_11879