Hermann von Ihering an Ernst Haeckel, Göttingen, 28. November 1874
Goettingen 28.XI.74
Verehrter Herr!
Heute las ich eine Abhandlung von Edwin Ray Lankester im Quarterly Journal of Microscopical Science über Limnaeus-Entwicklung, die ich in meiner Abhandlung eingehend berücksichtigen werde. Ich wende mich nun an Sie mit der Bitte um Ihr Urtheil über diese, da ich meine Polemik gegen Lankester einigermassen danach einrichten will. Ich hatte schon immer das grösste Misstrauen gegen Lankester’s Arbeiten, aber das was er hier bietet übersteigt meine Erwartungen! Ich kann mir kaum denken dass ich selbst mich so gewaltig taeuschen || und ihn missverstehen sollte. Ich bin sehr gespannt wie Radls Resultate dazu stehen.
Die stärksten Punkte, die theils nach meiner Erfahrung falsch sind, theils mir sehr unwahrscheinlich erschienen sind:
1.) Seine Shell-Gland ist die Byssus-Drüse, die er nicht einmal dem Namen nach kennt und von deren Existenz bei Cyclas und Pisania er keine Ahnung hat. Er leitet aus ihr das Ligament der Lammellibranchen Schale und die Kalkschale von Limax ab (Sic!)
2.) Die Furchung soll eine ungleichmässige von der 4 Theilung ab sein (?)
3.) Die Einstülpungsöffnung der Gastrula werde nicht zum Munde, sondern verwachse
4.) Deutet er die laengst bekannten seitlichen Massen am Munde als velum, das in einer Anlage einen Flimmering bilde. Nach dem von mir || bei Helix entdeckten, kleinen, über den Munde stehenden rudimentaeren velum zu schließen, wird sich ähnliches bei Lymnaea finden und ist Lankester’s Auffassung falsch.
5.) Lässt er einige Zellen von Entoderm (Leberanlage?) sich lösen und resorbirt werden. –
6.) ist seine Ableitung des Mesoderm und viele andre Punkte sehr abenteuerlich und unwahrscheinlich.
Da ich mich selbst eingehend mit Cyclas und Helix entw. befasst (auch Pisidium) so glaube ich ein eigenes Urtheil haben zu koennen, das über diese Arbeit so unpässlich lautet, als es eben möglich ist.
So sehr ich auf Rabl’s Arbeit gespannt bin, möchte ich doch nicht um vorläufige Mittheilungen darüber bitten. Dagegen koennten Sie wohl || gütigst mir angeben, ob und wo ein sicher beobachteter Fall beschrieben ist, wo eine ächte Gastrula anders entstanden ist als in der bekannten Weise durch Einstülpung der einschichtigen Keimblase. Ich glaube dass es da, wo die Theilung von der 4 Theilung ab ungleichmaessig ist, überhaupt nicht zur Bildung der aechten Gastrula kommt.
Ich würde Ihnen sehr dankbar sein wenn Sie mir hierüber Auskunft geben und mir zugleich mittheilen möchten, ob es Ihnen speciell unangenehm ist, wenn ich Lankester so behandele wie er es verdient. Ich denke in 14 Tagen meine Arbeit Ihnen schicken zu koennen.
Ich bleibe mit der Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung
Ihr
ergebenster
Dr. Hermann von Ihering.