Wilhelm Bölsche an Ernst Haeckel, Friedrichshagen, 31. Dezember 1910

Friedrichshagen

31.12.10

Lieber Freund!

Im Ausklang des alten Jahres alle guten Wünsche zum neuen! Recht haben wir hier bedauert, Dich nicht bei uns begrüßen zu dürfen. Ich suchte telephonisch bei Deinen Verwandten Deine Berliner Adresse zu fassen, hatte aber kein Glück. Meinen Brief nach Leipzig hattest Du doch erhalten? Da ich von Dir keine Nachricht || darüber hatte, wusste ich auch nicht recht, wie ich mich zu der Sitzung bei dem Corvetten-Kapitän stellen sollte. Er selbst hatte mir einen merkwürdig konfusen Brief geschrieben, dessen Inhalt eigentlich nur war: er habe vor Arbeitsüberlastung absolut keine Zeit, mir mitzuteilen, um was es sich handle. Hoffentlich thue ich dem Manne Unrecht und er ist besser als sein Brief, − aber etwas || unheimlich kam mir die Sache vor, so dass ich zunächst zauderte. Seine Broschüre habe ich inzwischen erhalten und mit Interesse gelesen. Ein bischen gefährlich bei ihr ist nur die starke Betonung der Steuerfrage beim Kirchenaustritt. De facto treten heute zweifellos eine Menge Menschen aus der Kirche wesentlich wegen der Steuer aus, und so ist die Verquickung der Kirche mit den Steuergesetzen des Staats und ihren Consequenzen || (Gerichtsvollzieher etc) ganz gewiß eine der größten Gefahren für die Kirche, die sie längst selber hätte einsehen müssen, wenn sie nur das kleinste Minimum Diplomatie und Taktik für sich selber hätte. Auf der andern Seite meine ich aber, dass bei dissidentischer Propaganda in erster Linie die Gewissens- und Gedankenfrage ausgespielt werden muß. Daß einer aus geistiger || Einsicht und moralischer Selbstachtung austritt, wird stets die Hauptsache sein, nicht die Geldbeutelfrage der Steuer, und hier muß von dissidentischer Seite die Taktik und Klugheit der Kriegführung einsetzen. Im andern Falle lässt sich zu leicht gegnerisch argumentieren, es handle sich beim Austritt nur um einen wirtschaftlichen Vorteil. In dem Punkte ist sich der Kapitän noch nicht genügend klar. || Am 7. Januar findet hier in der Nähe eine kleine Feier meines 50. Geburtstages statt, zu der sich ein Komitee gebildet hat. Da es hieß, Du seiest in Berlin, entstand einen Moment dort die Hoffnung, Du würdest vielleicht persönlich auch daran teilnehmen können, und in diesem Sinne ist wohl eine Einladung direkt an Dich abgesandt worden. Es wäre in der That eine prächtige || Krönung des Festes gewesen, wenn Du dazu erschienen wärst!

Nun nochmals alles Gute zu 1911!

Mit herzlichsten Grüßen

Dein Wilhelm Bölsche

Brief Metadaten

ID
10991
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
31.12.1910
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 17,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10991
Zitiervorlage
Bölsche, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Friedrichshagen; 31.12.1910; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10991