Friedrich Stemann an Ernst Haeckel, Weimar, 8. Februar 1900

Weimar, 8. II. 00.

Hochgeehrter Herr Professor!

Am 16. v. Mts. wohnte ich als Gast einer Sitzung der ev. protestantischen Vereinigung bei. Gäste waren in der Ankündigung nämlich herzlich willkommen geheißen. Ursprünglich sollte ein Vortrag über „Staat u. Kirche“ gehalten werden, da aber 4 Herren, die darum ersucht worden waren, abgelehnt hatten, so sprang Superintendent Braasch, Jena, quasi als Lückenbüßer mit einem Referate über Ihr Buch „Welträthsel“ ein.

Da ich Ihr Buch weder besitze noch gelesen habe, mir auch nichts notiert habe, so kann ich nicht mit der wünschenswerthen Gründlichkeit verfahren.

Redner skizzirte erst in groben Umrissen den Inhalt des Werkes und ging dann im 2. Theil zu einer vermutlich geistreich sein sollenden, aber im Grunde recht hämischen und gehässigen, eines Predigers der christlichen Liebe recht unwürdigen Kritik über.

Die von Ihnen aufgestellten 8 Arten der Seele, wie er sich ausdrückte, wollten ihm garnicht gefallen. (Vermuthlich verwechselt er Seelen- oder gar Hirnthätigkeiten oder -Funktionen mit Seele). Er hob Ihr Bestreben hervor, zu Ihrem Zwecke || das Hohe möglichst herabzuziehen und das Kleine, das Niedere möglichst zu erhöhen.

Ueber Ihre „Verdichtungspunkte der schwingenden Substanz“ stolperte er fortwährend, es schien absolut über seinem Horizont zu liegen. (Daß dieses ein wissenschaftlicher Glaubenssatz, eine Hypothese, unterschlug er seinen andächtigen Zuhörern).

Ihre Verneinung der persönlichen Unsterblichkeit mit dem drastischen Hinweis darauf, daß es Manchem gar nicht einmal lieb sein würde, seine bessere Ehehälfte oder Schwiegermutter wieder zu sehen, glaubte er mit dem Ausspruch Paulus über den „verklärten Leib“ widerlegt zu haben. (Nun, er muß ja solch vernunftwidriges Zeug glauben, das Geschäft bringt’s mit sich.)

Daß sie es gewagt, die von Bois-Reymond offen gelassenen 7 Welträthsel zu lösen, suchte er in’s Lächerliche zu ziehen und theilte mit, daß Ihnen nach Schluß einer Versammlung von Studenten ein großer Schlüssel überreicht worden sei.

Sie wiederholten sich häufig in Ihren Ausführungen (er wohl nicht?!) und gebrauchten mit Vorliebe Fremdwörter! (In einer Predigt oder einem populären Vortrage sind Fremdwörter freilich möglichst zu vermeiden, in einem hoch wissenschaftlichen || Werke sind internationale oder fachwissenschaftliche Ausdrücke schwerlich zu umgehen, schaden auch nichts, denn sie werden ja verstanden).

Sie nannten Kant als Verfasser der „Kritik der reinen Vernunft“, wo er schon 57 Jahre zählte, den jungen, dagegen als Verfasser der „Kritik der praktischen Vernunft“, wo er nur acht Jahre älter war, den alten Kant!

Von Strauß hätten Sie wahrscheinlich nur „Der alte und der neue Glaube“ gelesen (Das geht ihm doch nichts an! Das ist doch Ihre Sache!) Aus der Schöpfung hätten Sie „Gott“ verbannt. (Den Unterschied zwischen „Atheismus“ und „Pantheismus“ scheint er übersehen.)

Den alten abgetriebenen Gaul, daß Ihre Stammbäume der Phylogenie so viel Werth hätten wie die Stammbäume der Homerischen Helden, ließ er auch wieder paradieren!

Seinen Haupttrumpf glaubte Braasch auszuspielen, als er darauf hinwies, wie Ihre Oberflächlichkeit mit der Würde eines Universitätsprofessors unvereinbar sei, indem Sie bei der Erwähnung des allgem. Concils zu Nicäa (nach meinem kleinen Brockhaus 325 n. Chr.) sich um 2 Jahre verschrieben hätten. Dies könne zwar ein Druckfehler sein, aber bei Erwähnung des heil. Rockes zu Trier (nach m. kl. Brockhaus 1844) machten Sie denselben Fehler. Auch wüßten Sie nur von einem Briefe des Paulus an die Korinther! (tant de bruit pour une omelette!) ||

In der sich nun entspinnenden Debatte erbat Braasch sich Belehrung über die ihm so vollständig unerklärliche „Verdichtungstheorie“, worauf dem Herrn Superintendenten ein junger Pastor wiederholt entgegnete, daß er sich wohl eine „Verdichtung“ denken könne, denn man spreche doch auch von einer Centralisation der Liebe in Gott usw. Es half aber Alles nichts, in Braaschs Hirn blieb es unklar nach wie vor.

Der große Absatz Ihres Buches ward als bedauerliche Epidemie des Volkes hingestellt, die sich austoben müsse. Den Vorschlag, eine Resolution dagegen zu fassen, hielt man nicht für angebracht, 1. weil man sich der Zustimmung aller 300 Geistlichen des Landes doch nicht so ganz sicher sei, 2. weil Ihr Buch doch nur der Ausfluß einer subjectiven Anschauung sei.

Noch sei erwähnt, daß die Kritik Ihres Werkes in der Thüringer Gewerbezeitung vom 15. Dec. vor. Jahres von Dr. Elster äußerst wohlthuend gegen die Braasch’sche Kritik absticht. Auf Wunsch bin ich gerne erbötig, Ihnen mein Exemplar zuzustellen.

Es sollte noch der „Fall Weingart“ und „Besprechung der Vereinssatzungen“ vorgenommen werden, worauf ich aber gerne Verzicht leistete. ||

Möge es Ihnen als einem der berufensten Hohepriester noch lange vergönnt sein, den heiligsten aller Kulte, den Kult der Wahrheit zu pflegen, möge es Ihnen, lieber Herr, noch lange vergönnt sein, als einer der besten Führer in das Reich der wahren Wissenschaft Ihres hohen Amtes zu walten!

Mit der Bitte, mir meine anscheinende Aufdringlichkeit nicht übel zu deuten, denn lange habe ich gezögert, an Sie zu schreiben, ich glaubte aber, Ihnen das Vorstehende nicht vorenthalten zu dürfen.

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr ganz ergebener

Friedrich Stemann,

Watzdorfstrasse 17 I.

Brief Metadaten

ID
10922
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
08.02.1900
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10922
Zitiervorlage
Stemann, Friederich an Haeckel, Ernst; Weimar; 08.02.1900; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10922