Scheidemantel, Herman

Herman Scheidemantel an Ernst Haeckel, Leipzig, 22. Mai 1901

Deutsche Hochschulzeitung

Leipzig

No. 5 Königsstraße No. 5

Sprechstunden der Schriftleitung:

täglich 3-4 Uhr.

Leipzig, den 22. Mai 1901.

Sehr verehrter Herr Professor,

Lassen Sie mich zuerst aufrichtige Glückwünsche darbringen zu Ihrer frohen Wiederkehr von der Reise nach Ostindien. Ich bin der festen Zuversicht, daß Sie auf ihr neue Anregungen zu weiterem Schaffen in großer Fülle gesammelt haben. Ich konnte, als ich Sie hier noch in vollster Jugendfrische sprach, nicht an die Worte glauben, nach denen Sie in Ihren „Welträtseln“ die Schöpfungen beschließen wollen, welche Sie alle der dankenden Menschheit geschenkt haben. Als ich am Himmelfahrtstage wieder || einmal in diesem Buche blätterte und die Stellen las, wo Sie sich mit den Peripetien im Geistesleben eines Wundt, Du Bois-Reymond u. A. beschäftigen, kam mir der Gedanke, daß für Sie das vorgerückte Alter wohl noch nicht solche Umwandlungen befürchten lasse, als es bei jenen Forschern mit bedeutsamen Einflüssen für ihre Wissenschaft geschah. Dazu haben Sie sich jedenfalls dank Ihrer vernünftigen Lebensauffassungen und Weltanschauung, vielzuviel Frische bewahrt. Sie werden, sehr verehrter Herr Professor, wohl schon an verschiedenen Beispielen erfahren haben, daß auch während Ihrer großen || Reise so mancher seinen Unwillen über die ihm unangenehmen „Welträtsel“ ausließ. Aus der gelehrten Welt Leipzigs sind mir im Anschluß an diese Ihre letzte Publikation ergötzliche Dinge zu Ohren gekommen, insbesondere scheint der auch von Ihnen unterschriebene Aufruf zur Beteiligung an dem Preisausschreiben aus dem Gebiete der Deszendenztheorie den hiesigen Theologen sehr in den Köpfen gespukt zu haben. Aus einem theologischen Examen z. B. folgende komische Episode:

„Wissen Sie, was Deszendenztheorie ist?“ Kandidat schweigt. „Kennen Sie Darwin?“ ||

„Ja“ – der hat z. B. ein Werk über die Abstammung des Menschen geschrieben. Na, ich nehm’s Ihnen nicht übel, wenn Sie nicht wissen was Deszendenztheorie bedeutet. Da haben z. B. gewisse Leute am schwarzen Brett eine Preisaufgabe gestellt: „Was lernen wir aus der … Ich begreife nicht, wie wissenschaftlich gebildete Leute so eine Frage stellen können. Was lernen wir denn von der Deszendenztheorie? Nichts lernen wir daran. Ich halte so eine Frage überhaupt für Unsinn.“

Dieser Examinator war der hiesige Professor Rietschel. Der scheint den Darwinismus || garnicht verdauen zu können. Was hat dieser Mann nicht gegen mich und gegen die Feier am 17. Februar 1900 gehetzt, wo Sie leider vergeblich erwartet wurden. Erst jüngst wurde mir durch eins seiner Theologen-Sprachrohre vorgehalten, wie ich hätte Studierenden zumuten können, eine Feier besuchen, wo Haeckel und Nietzsche das Programm regierten. Um es übrigens nicht zu vergessen: die betreffende Preisausschreibung ist auch nicht mehr am gehörigen Ort zu finden. Gewöhnlich hängen solche Dinge, bis sie durch den || Endtermin erledigt sind; auch sonst hängen derartige Sachen jahrelang an den Brettern. Es ist für mich kaum ein Zweifel, daß man auf Anraten solcher Lehrer Ihre Aufforderung bei Zeiten auf die Seite brachte.

Sehr verehrter Herr Professor, ich gedenke in einer der nächsten Nummern der Deutschen Hochschul-Zeitung, die ich leite und die in Leipzig in 3000 Exemplaren gratis verteilt wird, eingehender auf Ihre „Welträtsel“ zurückzukommen; ich berührte sie jüngst schon in einem Aufsatze, ich glaube er wurde Ihnen zugestellt. Ich ziehe mich die Pfingsten auf mein kleines Land-||gut bei Rudolstadt zurück, dort will ich in der richtigen Stimmung Ihr Werk nochmals bedenken; es ist, wie ich hoffe, noch nicht das Letzte. Der letzte Grund meines Schreibens an sie ist nun der, daß ich Sie fragen möchte, ob Sie vielleicht einiges Interessante für diese meine Arbeit zuzufügen haben. Man hält gerade solche Arbeiten, da sie etwas aktuell gefärbt sein müssen, immer gern auf dem Neuesten. Ich sah mich z. B. auch nach der Bölsche-Biographie um, konnte aber im Laufe der Geschäfte bisher davon nichts gewahr werden. Ich hoffe in einem Essay über Bölsche nächstens auch darauf mehr eingehen zu können. ||

Hochverehrter Herr Professor, ich will Sie nun nicht länger mit Auseinandersetzungen langweilen. Sie wissen, hoffe ich, was ich mit diesen Zeilen will. Können Sie mir in dem Sinne willfährig sein, so können Sie mir vielleicht schon vor dem Ende des Mai mit einigen Winken zur Seite sein. Ich bin bis dahin in Rudolstadt erreichbar, Adresse lautet: Sommerstraße 15. I. Im andern Falle müßte ich vielleicht diese Arbeit bis später aufschieben, dann bin ich wieder in Leipzig erreichbar. Lassen Sie mich nun diese Zeilen mit der Versicherung aufrichtiger Verehrung für Sie beschließen. Mit einem herzlich frohen „Gruß und Heil!“

Ihr ergebener

Herman Scheidemantel.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
22.05.1901
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10812
ID
10812