Moritz Grünewald an Ernst Haeckel, Mülhausen im Elsass, 15. Februar 1901

Mülhausen i/Els. den 15 Febr. 1901.

Herrn Professor Dr. Ernst Haeckel

Jena!

Sehr geehrter Herr!

Im Anschluß an mein Schreiben vom 27. November vorigen Jahres, gestatte ich mir dem Herrn Professor einen kurzen Bericht zu unterbreiten über einen Vortrag des Herrn Divisionspfarrer Dr. Brückner aus Straßburg, gehalten am 12. dieses Monat’s im evangelischen Vereinshause in Mülhausen i/Els. über

„Haeckels Welträthsel“.

Von den über 400 Hörern aller Stände waren gegen 200 Frauen. In genau 40 Minuten war die Besprechung des ganzen Werkes abgethan. Die Mangelhaftigkeit des ganzen Vortrages, namentlich aber der Folgerichtigkeit, war verblüffend. Nachstehende Worte, bez. Sätze, die ich als Hörer sofort notierte, mögen mein Urteil begründen.

„Haeckel ist selbst Dualist, denn Kraft und Stoff sind ihm (oder für ihn) unzertrennlich.“

Die Abstammungslehre sei unbewiesen, (Virchow) denn sonst müsse auch – wie bei einer chemischen Zusammensetzung – eine Rückbildung möglich sein; aber,

„Man kann einen Menschen nicht zurückbilden.“ – ||

„Haeckel verwechselt das Organ und das Wesen der Seele, spricht von Associons-Centern, statt von Assiciations-Centern.“

„Es ist kein einziges Mittelglied von einer Art zur anderen bewiesen.“

„Das Causalitätsbedürfnis muß zu Gott führen.“

„Das Zweckbedürfnis erheischt einen Gott.“

„Haeckel gerät in dem anthropistischen Größenwahn und unterschiebt uns, wir seien der Mittelpunkt der Welt. Wir aber wissen:

„Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest, der Erdensohn, daß Du Dich seiner annimmst?“

Diese Blütenlese möge genügen.

Dann wurde ein Wenig (nicht gehässig) geschimpft.

Zum Schluss – – der Klingelbeutel! –

Und das Resultat? Viele, welche die Welträthsel noch nicht gelesen, werden es eiligst thun. Recht so! –

„Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?

„Die Wenigen, die was davon erkannt,

„Die thöricht genug ihr volles Herz nicht wahrten,

„Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauer offenbarten,

„Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.

(Goethe’s Faust.)

Ich wäre außerordentlich erfreut, wenn der Herr Professor meiner mit Brief vom 27. November vorigen Jahres ausgesprochenen Bitte gelegentlich gütigst nachkommen wollten. ||

Unter Zusicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung und Verehrung zeichne ich ergebenst

Moritz Grünewald

Kaufmann Mülhausen i/Els.

Wildemann Str. 9-11.

Brief Metadaten

ID
10809
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Mülhausen
Entstehungsland aktuell
Frankreich
Datierung
15.02.1901
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10809
Zitiervorlage
Grünewald, Moritz an Haeckel, Ernst; Mülhausen; 15.02.1901; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10809