Wilhelm Ostwald an Ernst Haeckel, Grossbothen, 4. Januar 1918

WILHELM OSTWALD GROSSBOTHEN, den 4.1.1918

LANDHAUS ENERGIE

Verehrter und lieber Freund:

Ihre „Kristallseelen“, für die ich herzlichst danke, habe ich alsbald mit aller Aufmerksamkeit gelesen und mich der unverwüstlichen Frische gefreut, die aus diesem Werk nicht weniger wie aus Ihren anderen spricht. Zu fachmännischen Bemerkungen habe ich keinen Anlass gefunden, vielmehr über die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gestaunt, mit der Sie sich diese Materie zu eigen gemacht haben. Der einzige Punkt, wo etwas zu erinnern wäre, ist nur ein chemischer Schönheitsfehler, indem Sie wiederholt Silicium schreiben, wo Kieselsäure oder Siliciumdioxyd gemeint ist. ||

Was nun die grundsätzliche Seite der Sache anlangt, so wissen Sie aus unseren wiederholten Gesprächen, dass gerade in diesem Punkte unsere Ansichten auseinandergehen. Mir macht es nicht mehr Schwierigkeiten, symmetrisch geordnete Kräfte in einem Punkt oder vielmehr Teilchen anzunehmen, wie eine Einzelkraft nach Art der Schwere. Und die Symmetrie ist hierbei das einzige, was möglich ist, da eine unsymmetrische Anordnung der Kräfte (oder Energiepotentiale) dem Kausalgesetz widerspräche. Hier macht sich der Umstand geltend, dass Sie Biologe sinda und ich Chemiker. Sie gehen vom Lebewesen aus und deuten von dort her den Kristall, ich || würde es umgekehrt machen, wenn ich so verwegen wäre, das Leben zu deuten zu wollen. So müssen wir wohl jeder dort stehen bleiben, wohin Anlage und Lebensarbeit jeden von uns gestellt haben und uns mit einem herzlichen Gruss von hüben nach drüben genug sein lassen.

Dass ich das Verlangen lebhaft empfinde, Sie persönlich aufzusuchen, brauche ich nicht erst zu sagen. Aber jetzt zu reisen kommt beinahe auf einen Selbstmordversuch heraus; noch eben liegt mir ein Fall vor, wo ein nicht sehr alter Herr eine 24-stündige Eisenbahnfahrt mit einer Lungenentzündung zu bezahlen hatte. Aber ich rechne heuer auf einen zeitigen Frühling, der im März schon || reichlich warme Tage bringen soll.

Mit lebhafter Teilnahme erfahre ich von den Lasten des Alters, die Sie zu drücken anfangen. Nun der kürzeste Tag überwunden und die Sonne wieder im Ansteigen ist, hoffe ich auf eine entsprechende Rückwirkung auf ihr Empfinden. Auch ich habe die kurzen trüben Tage schwer zu ertragen gefunden, zumal ich für meine Farbenarbeiten das Tageslicht so nötig brauche.

Auch unsere völkischen Schicksale scheinen durch die untere Kulmination gegangen zu sein; der Frieden nimmt langsam Gestalt an und bei der grossen Schlussrechnung werden wir in Summa besser abschneiden, als unsere Gegner, so viel Wertvollstes wir auch in den schweren 40 Kriegsmonaten verloren haben.

In alter Treue Ihr ergebener

W Ostwald

a eingef.: sind

Brief Metadaten

ID
10443
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
04.01.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
15,9 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10443
Zitiervorlage
Ostwald, Wilhelm an Haeckel, Ernst; Grossbothen; 04.01.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10443