Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 16. Juni 1895

Heidelberg, 16. Juni | 1895.

Liebster Freund!

Ich habe sehr bedauert, daß Du Deinen Plan für die Pfingstferien ändern mußtest, und mich dadurch um die Freude, Dich einmal wieder zu sehen und mit Dir des Gedankenaustausches zu pflegen, kommen ließest. Ich hatte Dich zwei Tage hindurch erwartet. Ob der Ausflug in die Schweiz gut ausgefallen wäre, möchte ich jedoch bezweifeln, denn es scheint das Wetter auch dort nicht sehr günstig gewesen zu sein. Auch bei uns herrscht bisher ein sehr wechselvoller Sommer, und ich bin froh, wenn ich des Abends zur Ausführung meines täglichen Spazierganges gelangen kann. Für den übrigen Tag ist’s mir ziemlich gleichgültig, denn ich habe da genug Beschäftigung. Am meisten Zeit nimmt || immer ein Zeichner in Anspruch, so daß ich beklage nicht Alles selbst herstellen zu können.

Ich arbeite übrigens auch an der vergl. Anatomie, wo es, freilich langsam, vorwärts geht. Ich darf mich, bei meinem Alter, nicht überarbeiten, und muß es daher langsam gehen lassen. Wie Du weißt, habe ich die Abendarbeit schon lange eingestellt, und wissenschaftliche Probleme darf ich, bei Strafe des Schlafverlustes, nicht mit zu Bette nehmen. Historische Lecture sichert mir am besten die Nachtruhe, und hat mich bisher immer gesunden, continuirlichen Schlafes bis zum Morgen genießen lassen. So geht meine wissenschaftliche Thätigkeit ihren Weg „con amore“, aber dieses in jedem Wortsinne, und ich wüßte nicht, woher mir eine Verpflichtung kommen sollte es anders zu halten. Die so vertreterreiche Wissenschaft geht doch ihre Wege, und ob ich diese Wege für die richtigen halte, ist ja einerlei, nicht blos mir, sondern auch der übrigen Welt! Nicht einmal || ein neues Buch ist nöthig, zeichnet sich doch das Wiedersheimsche durch Uebersichtlichkeit aus. Es ist auch fraglich, ob ich für meine vergleichende anatomische Thätigkeit eine Berechtigung habe. Ich besitze zwar einen „Gewerbeschein“ dazu von meiner Behörde, aber ich weiß nicht, ob der noch gilt. Die vergleichende Anatomie gehöre den Zoologen, hast Du selbst mir einmal geschrieben, es wird um den Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Ich war nun nie ein Freund des Zunftzwanges und habe auch jetzt noch die Meinung, daß auch in der Wissenschaft jedem der Theil gehöre, den er zu fördern vermag. Damit will ich aber nicht sagen, daß die Zoologen sich nicht etwa auch um Wirbelthiere a Verdienste erworben hätten. Auf dem Straßburger Zoologen-Congress hat neulich das Problem der Abstammung der Vertebraten, natürlich von Anneliden, eine bedeutsame Rolle gespielt, besonders nachdem der Berliner vergleichende Anatom einen zündenden Gedanken in die Debatte geworfen hatte b. Es ist eigentlich eine Art „tragischer Geschichte“, wie sie der selige Chamisso || besungen hat, aber sie hat einen fröhlichen Ausgang. Ein armes Annelid trug schwer an seiner ihm dorsal zu bedeutenden Umfange emporgesproßten Leber. Es sann auf Aenderung seiner Lage, und, richtig, eine Probe des Umdrehens gelang überraschend gut. Die Leber war jetzt leichter zu schleppen, das Nervensystem fand sich an dem ihm gebührenden Orte, und eine neue Laufbahn konnte begonnen werden. Sie führte glücklich zum Urwirbelthier! Mit solch’ großartiger Geistesarbeit kann ich freilich nicht concurriren. –

Doch nun Scherz bei Seite! Deine Behandlung des palaeontolog. Materials der Wirbelthiere wird mich sehr interessiren, wenn ich selbst mich auch wenig tief in jenes Material versenken durfte. Du begreifst, daß ich mich überhaupt nur aufs Allgemeine beschränken mußte und zu jenen Studien keine Zeit besaß. Auch eine gewisse Gleichmäßigkeit durfte nicht ganz außer Acht bleiben. Wenn Du zu einer neuen Nomenclatur gelangt bist, so wird damit einem wichtigen Postulate entsprochen. c In der gegenwärtigen Systematik || erscheint vielmehr nur ein Sammelsurium aus verschiedenen Perioden der Wissenschaft, als der Ausdruck eines einheitlichen Planes. Uebrigens halte ich in dieser Hinsicht das Steinmann-Döderleinsche Buch für besser als Zittel, aus welch’ letzterem ich allerdings viel gelernt habe. Zweifelhaft ist mir noch, ob ich von Deiner neuen Systematik werde Gebrauch machen können, denn ich habe dafür viel zu wenig aus der Palaeontologie aufgenommen, aus den vorhin erwähnten Gründen.

Du siehst mich aber trotz meines Seniums doch noch von einigem wissenschaftlichen Interesse erfüllt, und das hält mich noch einigermaßen frisch, und bringt mich über viele Dinge hinweg, welche die Gegenwart, sei es in der Wissenschaft, sei es im politischen Leben der Nation in unerfreulicher Weise darbietet. Es gewährt eine Erleichterung, sich einem gleichgesinnten Freunde über solches aussprechen zu können, und deßhalb beklage ich nochmals, daß d mir dein Besuch entgangen ist. Mit bestem Gruße von Haus zu Haus lebe wohl und denke zuweilen an Deinen

alten Freund

Gegenbaur

a Oberhalb eingef. u. wieder gestr.: kaum; b oberhalb eingef.: hatte; c ein Wort unleserlich gemacht; d gestr.: Du.

Brief Metadaten

ID
10150
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
16.06.1895
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
1
Format
22 ,0 x 14,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10150
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 16.06.1895; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10150