Heidelberg, 31. Dez 93.
Liebster Freund!
Besten Dank für Deinen gute Wünsche bringenden Brief, dessen Beantwortung mit einer Condolenz beginnen zu müssen, ich aufrichtig bedaure. Doch, „serius, ocius, cogimur omnes eodem urna“! Und das ist die richtige Neujahrsbetrachtung, an welcher unsere Glückwünsche sich anranken wie der Epheu am Gesteine, das er mit Leben umgibt. Wir freuen uns aber doch am Leben mehr, als an dem was || dahinter liegt, wenn wir uns auch nicht davor fürchten, und so können wir auch jener Wünsche nicht entbehren, zumal sie daran erinnern, daß wir doch noch mit dem Leben zu rechnen haben. Wie lange das noch sein mag ist gleichgültig. Das empfinde ich mit dem vorrückenden Alter immer mehr, und rechne es als einen großen Vorzug des Alters, daß man darin erst frei zu werden beginnt, freier und ruhig der vollständigen Befreiung in der „ewigen Ruhe“ entgegengehend. Wenn dabei der immer enger werdende || Interessenkreis doch noch ein Stück von dem umschließt, über welches er sich in jungen Jahren ausgedehnt hatte, so bedeutet das nichts anderes, als daß eben jene Dinge ein Stück von unserem Ich geworden sind. Sie scheiden sich scharf von Jenem, welches, wie immer auch sinnlich erfasst und räumlich uns nahe, doch von der Assimilirung ferne blieb. Mit diesen Empfindungen gehe ich ins neue Jahr, nachdem wir ein fröhliches Weihnachtsfest begingen. Möchte das neue Jahr uns Gutes bringen. Mit diesem Dir und den Deinen gewidmeten Wunsche bleibe ich stets in alter Freundschaft
Dein aufrichtiger
C. Gegenbaur