Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 29. Juli 1891

Heidelberg, 29. VII. 91.

Liebster Freund!

Das Semester naht sich seinem Ende, von Regenwolken begleitet, die es seit seinem Beginne nur selten verlassen hatten, und das Verweilen bei der Arbeit nicht zu einer Tugend werden ließen. Nach einer Aenderung von beidem sehne ich mich sehr, und freue mich auf eine hoffentlich trockenere Ferienzeit, von der ich den ersten Theil mit der jungen Familie auf meinem lieben Heiligenberge zuzubringen beabsichtige. Dort oben ist mir die Ferne von Menschengewühle das liebste, wenn ich auch den Pessimismus so || weit cultivire, wie Dein letzter Brief mir von Dir kundgegeben hat. Du hast ja im Ganzen wohl recht, aber darin stimme ich nicht bei, daß Du Deiner Auffassung einen tragischen Nimbus verleihest. Ich betrachte jene Dinge im natürlichen Lichte und sehe darin nichts anderes, als die Lehre von den rudimentären Organen ethisch exemplificirt! Wir sind eben außer Function gesetzt, da oder dort, und werden es überall, wo wir es nicht schon sind. Das historische Bewußtsein, in welchem auch das wurzelt, was wir „Dankbarkeit“ nennen, ist eine überaus seltene Erscheinung, so selten daß ich gar nicht mehr danach suche, und überall da, wo ich Freundlichkeiten || erfahre, mich frage, was wohl als Gegenleistung erwartet, vielleicht auch gefordert werde. Und doch ist jenes historische Bewußtsein wie ich‘s nenne, das einzig den Menschen Veredelnde, und wenn wir es haben; so kommt es uns auch zum Vortheil, da wir uns dadurch über die übrige bestialische Menge gehoben fühlen. So liegt auch in dieser Differenzirung ein Fortschritt, der durch den Gegensatz entsteht. Der, dem er zu Gute kommt, soll ihn genießen.

Du wirst nun bald ein frohes Familienfest feiern, über dessen Zeitbestimmung Du meine Anfrage unbeantwortet gelassen hast. Nach dem schweren Sommer wirst Du Dich in doppelt gehobener Stimmung befinden, wenn auch die Trennung von einer lieben Tochter schmerzlich ǀ empfunden wird. Die alte Geschichte von der unvermischten Freude!

Meiner Frau geht es leidlich. Sie wird während unserer Abwesenheit die Luftkur auf dem Kohlhofe – hinter dem Königsstuhl – brauchen; von wo sie jederzeit leicht hieher kommen kann. Meiner Tochter Emma hat der westpreußische Winter ganz vortrefflich bekommen. Sie ist seit einer Woche mit ihrem Jungen hier bei uns und wird mit auf den Heiligenberg gehen.

Bei Euch geht es hoffentlich gleichfalls gut, und Deine liebe Frau ist in völlige Erholung längst eingetreten. Möge Sie ferner befreit bleiben!

Mit herzlichem Gruße

stets Dein

C. G.

a Die Fürstin von Montenegro wurde jüngst hier an dem gleichen Uebel wie D. l. F. operirt!

a Am linken Rand der vierten Seite: Die Fürstin […] operirt!

Brief Metadaten

ID
10127
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
29.07.1891
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
18,1 x 11,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10127
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 29.07.1891; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10127