Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 15. April 1888

Heidelberg, 15 April 88.

Liebster Freund!

Seit wir uns zu Weihnachten gesehen ist eine lange und schwere Winterzeit an uns vorübergegangen und was hat sich nicht Alles während derselben zugetragen an Ereignißen aller Art, und welche Probleme sind da nicht entstanden! Wir dürfen wohl sagen, daß der Frühling vieles, vieles gut zu machen haben wird. Er wird es kaum vermögen! –

Gestern war der erste Frühlingstag, aber noch ohne Blüthen, und kaum bemerkt man, hier unerhört um diese Zeit, schüchternes Grün. Ich habe mich noch viel mit meiner Anatomie zu beschäftigen gehabt, deren Schluß bald fertig ist, und bin auch mit der vergl. Anatomie wieder etwas vorwärts gekommen, so daß ich hoffentlich früher damit fertig bin, als das Lehrbuch wieder eine Auflage erheischet. Beides zusammen ist nicht durchzuführen, denn auch auf anthropotomischen Gebiete herrscht große Thätigkeit und selbst die bloße Durchsicht der Letzteren kostet Zeit in Menge. ǀ| Die vergl. Anat. gab mir Anlaß mich mit Bardeleben zu beschäftigen. Es ist doch unerhört was dieser an Unverschämtheit geleistet hat. Die Literatur ist ihm absolut fremd, sonst hätte er die Ergebniße seiner Ritter’schen Reise nicht als Funde ausposaunt. Das sind alles alte Geschichten, nur daß die Älteren jene Carpalkanalstenose genauer kannten und sie auch richtiger beurtheilten!

Wie ich jüngst von Wilhelm Müller auf dessen Durchreise erfuhr, hat Hertwig jetzt den Prof. Stöhr in Würzburg gegen Fürbringer ausgespielt. Das ist mir unter der Annahme, daß er einen Geringeren zum Nachfolger wünscht, ganz begreiflich. Stöhr ist das in der That, und wenn jene Rücksichten nicht obwalteten, so wäre mir der Vorschlag unbegreiflich. Stöhr hat ein Lehrbuch der Histologie geschrieben, und hat das Kunststück dabei fertig gebracht die Gewebe zu ignoriren. Es giebt für ihn nur Zellen! Nur beim Bindegewebe kommt das Wort vor, da es nicht zu vermeiden war. Seine vergleichend Anatom. Arb. sind bei vielleicht gutem Willen, nur || schwächliche Producte, denen man das ut aliquid fecisse videamur ansieht. Eine Förderung irgend welcher Art, kann ich in keiner Arbeit Stöhrs erkennen. Auf keinen Fall würdest Du und unsere Richtung auch nur das Geringste an einer solchen Berufung haben! Für Hertwig ist das Alles sehr bezeichnend!

Durch Müller erfuhr ich auch Deine Anwesenheit in Potsdam, wo Du gewiß von den Siphonophoren Dich erholtest! Ich darf Dir wohl zur Beendigung des Werkes gratuliren. Hoffentlich hast Du die Deinigen dort wohl getroffen. Bitte Deine liebe Frau Mama, sowie Deinen Bruder herzlich von mir zu grüßen.

In meinem Hause ist der Winter ziemlich gut abgelaufen, nur begannen bei meiner Frau die alten Beschwerden sich wieder einzustellen und neulich befürchtete ich sogar eine Wiederkehr der vorjährigen Heimsuchung! Vielleicht wird‘s besser.

Deiner lieben Frau senden wir beste Grüße und ebensolche schickt Dir meine Frau, der Dein Weihnachtsbesuch nicht minder als mir eine große Freude gewesen.

In alter Treue

Dein

CG.

Brief Metadaten

ID
10096
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Großherzogtum Baden
Datierung
15.04.1888
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
14,0 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10096
Zitiervorlage
Gegenbaur, Carl an Haeckel, Ernst; Heidelberg; 15.04.1888; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_10096