Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 24. Juni [1884]

Heidelberg, 24. Juni | 83a.

Liebster Freund!

Dein Brief welcher mir die Todesnachricht Seebecks brachte kam mir am Hochzeitstage meiner Tochter und hat meine ohnehin schon sehr gemischten Empfindungen noch mehr turbulirt. Mit Seebeck schließt die Reihe einsichtsvoller Männer ab, welche seit dem Beginne dieses Jahrhunderts, wenn noch nichts allerorts so doch, zeitlich von den verschiedensten Seiten her zusammengefaßt, in fast b continuirlicher Reihe für die Entfaltung wissenschaftlichen Sinnes an deutschen Hochschulen gewirkt hatten. Die gegenwärtige Generation ist solcher Leiter unwerth.

Mit der Verehelichung meiner Tochter schließt sich mir ein Lebensabschnitt, der mir progressiv viel Sorge gebracht hatte. Sie ist jetzt als junge Frau von der Hochzeitsreise || heimgekehrt und waltet glücklich am eigenen Herde, ich aber genieße jetzt mit meiner Frau der wohlverdienten und ersehnten Ruhe, der Ruhe die mir wieder Freude zur Arbeit gibt. An solcher fehlt es mir im Augenblicke so wenig, daß ich eher zu viel davon besitze. Seit einem Monate habe ich die Umarbeitung der Vergl. Anat. bei Seite gelegt und die nothwendige Revision meines Lehrbuchs begonnen, von welchem im nächsten Winter die zweite Auflage gedruckt wird. Im Großen und Ganzen habe ich zwar wenig zu ändern, allein die genaue Durchsicht ist zeitraubend und nicht weniges kann verbessert werden. Auch manche Figuren sind durch bessere zu ersetzen.

Nach Semesterschluß, der zu Anfang August stattfindet, begebe ich mich mit Frau und Kindern wieder auf unseren lieben Heiligenberg, wo wir bis Anfang September bleiben. Dann wird Fritz aufs Gymnasium befördert, wozu ich etwa vom 5-10 Sept. wieder hier sein werde. Von da ab beabsichtige ich in die Schweiz zu reisen und mich etwa in Lugano niederzulassen, wo ich || bereits zweimal sehr behaglich längere Zeit existirte. Ich habe dort einen kleinen aber guten Gasthof aufgefunden, dessen Inhaber jener Thüringer Kellner ist, welchen wir vor ca. 8 Jahren in Thusis trafen!

Deine Absicht mit mir im Sept. irgendwo zusammenzutreffen begegnet meinem Wunsche und ich kann nur sagen, daß ich mich sehr freuen werde jenes Wiedersehen zu Stande kommen zu lassen. Da ich aus Deinem Briefe annehmen darf, daß Du im August irgendwo in den Alpen sitzest, könnten wir uns ein Rendezvous verabreden, und dann zusammen über den Gottardo gehen. Jedenfalls sehe ich Vorschlägen entgegen, da ich nicht weiß unter welchem Längengrade Du Dich aufhalten wirst.

Mit bestem Gruße von Haus zu Haus

Dein alter

CGegenbaur

a Irrtümliche Datierung Gegenbaurs. Emma Gegenbaur und Otto Nieland heirateten am 7. Juni 1884. Am selben Tag verstarb Moritz Seebeck. b Von oben eingefügt: fast.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
24.06.1884
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10062
ID
10062