Gegenbaur, Carl

Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 28. Mai bis 6. Juni 1880

Heidelberg, 28 Mai | 1880

Liebster Freund!

Vor Allem drücke ich Dir wie Deiner lieben Frau unser aufrichtiges Beileid aus, zu dem schmerzlichen Verluste welcher Euch betroffen hat, und will hoffen und wünschen daß Du mit Deiner Familie Dich wohl befindest. Bei uns geht es jetzt wieder ganz gut, nachdem Emma den Scharlach, der sie Mitte März befallen hatte, glücklich überstand, und die Krankheit keine weitere Verbreitung fand. Eine Störung war mir das aber immerhin, und manche unruhige Stunde war daraus entstanden, zumal kurze Zeit nachher ein schlimmer Verlauf der Krankheit sich in einigen Fällen ergeben hatte und nun als Schreckgespenst wirkte. So hatten wir die Osterferien keine Erholung, und ich freue mich deshalb schon auf den Herbst, wo es mir vielleicht gelingen wird mit Dir zusammenzutreffen. Bis dahin liegt freilich noch ein großes Stück Arbeit vor mir. Ich habe noch mit || der Illustration meines im MS. nun fertigen Buches sehr, sehr viel zu thun, und sehe wirklich nicht ab, wie das zu Ende kommen soll, d. h. so weit daß der Druck beginnen kann ohne auf spätere Hinderniße zu stoßen.

Die Arbeit hat mich übrigens doch recht befriedigt, und ich denke etwas Nützliches begonnen zu haben. Erwarte Du aber ja nichts Großartiges, Neues, und stelle Dir vielmehr nur ein gewöhnliches, blos etwas anders disponirtes Lehrbuch der „Anatomie des Menschen“ vor, wie ich es auch betiteln werde. Der Stoff ist ja ein gegebener aus dem nichts wegzunehmen, und zudem auch nichts bedeutendes hinzuzufügen ist, und für die Behandlung dieses Stoffes ist wieder das Maaß der Einsichten bestimmend, welches bei den Lesern, die doch erst Anfänger sind, billigerweise vorausgesetzt werden kann. Das war mir Richtschnur. –

6. Juni: Diese Zeilen wurden mir unterbrochen und geriethen in ein Versteck, aus dem ich sie erst heute wieder befreite, und so sollen denn meine Grüße an Dich nicht länger zurückgehalten sein. In dieser grünen Winterszeit denkt man ja ohnehin lieber an sommerliche Tage von ehedem || und da ist es gar nicht weit zu der Erinnerung an unsere heißen Touren auf den Kalkbergen des Saalthals, wo mir der Schatten ebenso willkommen war als es jetzt die Sonne sein würde. Seit 8 Tagen ist es nämlich kalt und windig, wie im März, und gestern hatte ich Lust mir auf der Anatomie heizen zu lassen! Das ist hier unerhört! Den Ausbau der anderen Hälfte meiner Anstalt hat die badische Kammer, dank unserer betrübten Finanzverhältnisse, abgelehnt resp. sie auf zwei Jahre verschoben, und damit a mir einen rechten Gefallen gethan! Jetzt möchte ich nicht noch mit Lärm und Ausräumen belastet sein. Unser Semester hat sich gut angelassen, und es scheint daß die Medizin wieder in besseren Flor kommt. Mit meinen Zuhörern bin ich recht zufrieden. Seit den letzten Jahren habe ich erwünschte Stabilität, so daß die Leute den ganzen Cursus bleiben und das neue Semester nicht blos neue Gesichter bringt. Ruge läßt sich als Prosector und auch als Dozent ganz gut an, wenn ich auch Fürbringer in manchem vermisse. Ich habe von letzterem seit langem nichts gehört, und das letzte war || nicht erfreulich, da es die Nachricht war, daß er mit Familie am Fieber litte. Was sagst Du denn von Zöllner, gestern blätterte ich sein neuestes Opus durch, dessen Polyphasie offenbar eine Störung beschwört. Daß auch Du als Medium auftrittst!! Es geht doch überall recht bunt zu, und überall fehlt es an Maaß und Ziel und Ordnung, sodass man gerne an seinem eigenen Gehäuse weiter baut und eine neue Windung ansetzt um sich recht tief zurückziehen zu können. Doch genug. Hoffentlich bietet der Herbst Gelegenheit zu mittelbarerem Austauschen von Ideen und Meinungen und so sei manches verschoben bis dahin.

Unter Wiederholung der eingangs ausgedrückten Gesinnungen schließe ich mit herzlichen Gruße von Haus zu Haus

Vale ac fave!

Stets Dein aufrichtiger

CGegenbaur

a Folgt: gestr. mir.

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.06.1880
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10043
ID
10043