Carl Gegenbaur an Ernst Haeckel, Heidelberg, 28. Juli 1878
Heidelberg, 28. Jul. | 78
Liebster Freund!
Deinen beim ersten Durchblättern mit einigem Gruseln betrachteten Anti-Virchow habe ich mir jüngst mit Ruhe durchgelesen, und fühle mich gedrungen Dir einige Zeilen darüber zu schreiben, zumal ich mit vielen Punkten vollkommen übereinstimme. Recht gut ist was Du über den Subjectivismus sagst, über das „selbstlebende“ in der Wissenschaft. Das wäre noch viel a ausführlicher zu geben gewesen, und zwar nach zwei Seiten: 1. was steht denn überhaupt fest? wo ändert sich nichts mehr? Wie viel gilt denn heute noch von dem was Virchow vor 25 Jahren gelehrt hat? 2. wer soll denn bestimmen was fest steht, ein Areopag, etwa in Berlin? Das Dictum Virchow‘s vom feststehenden der lebendigen Wissenschaft scheint mir die allerschwächste Seite der V. Agression zu sein. Das Wissen || Virchow’s in morphologischen Dingen hast Du gewiß richtig dargestellt. Daß Du die b übrige Berliner Gesellschaft mit hereinbrachtest, scheint mir überflüssig und auch nicht passend, zu was Dir immer wieder neue Feinde machen! Du hast genug davon! Mich hast Du recht wieder gelobt, ob das der Sache was nützt, bezweifle ich. Im Ganzen scheint mir übrigens daß V. mit der Behandlung die Du ihm zu Theil werden ließest, zufrieden sein kann. Du hast ihm doch überall Gerechtigkeit widerfahren lassen, und Dich von allem heraus gehalten was boshaft oder hämisch wäre.
Herzliche Grüße von Deinem
CGegenbaur
a Folgt gestr.: z; b eingef.: übrige