Delle Grazie, Marie Eugenie

Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 11. Oktober 1896

Wien, 11. Oktober 1896.

Hochverehrter Herr Professor!

Ich schreibe diese Zeilen im Garten. Die Luft ist so lind und sonnig, und schwere, warme Windstöße machen die, noch immer grünen Wipfel über mir rauschen. Der Zufall will es, dass in der Ferne ein Lied gespielt wird, das auch in einer sternblitzenden Nacht auf dem Mönchsberg erklang, und schließ’ ich die Augen, ist es eigentlich, als wär’ ich noch dort, obwohl jene Stunden bereits in die Märchenferne der Poesie gerückt sind. Aber es ist so viel Sonne für mich um jene Erinnerung, || dass ich mich heute förmlich überschüttet fühle davon. Und aus dieser lichttrunkenen Stimmung heraus, kann ich mich so voll und ganz in Ihren Triumph über die Vollendung Ihres grandiosen Werkes hineindenken; dieses Werkes, das aus dem stillen Meer Ihrer Einsamkeit nun emportaucht wie eine Koralleninsel, um hinfort ganze Welten zu tragen! Es ist etwas so Einziges um diese, alle Lebensformen umfassende, gliedernde, das Dasein von seiner geheimnisvollen Wurzeltiefe, bis zu seinen, uns Allen sichtbaren Gipfeln begleitende Arbeit, dass ich in den Jubel Ihres „Thalatta!“ aus ganzer Seele einstimme, aber als berechtigte Aenderung eigentlich am liebsten „Land!“ dafür setzen möchte! Steh’ ich doch || so ganz auf einem Boden, den Sie geschaffen, und mit mir all’ die Tausende, denen Sie der Meister geworden! Und ich denk’ mir: es muss jetzt auch um Sie viel Sonne sein – denn Sie tragen Sie [!] ja in Sich, mit diesem Blicke, dem die ganze Natur offen liegt, und der sie durchleuchtet, in der heroischen Zuversicht, ihr Räthsel um Räthsel abzuringen.

Muss ich Ihnen da erst sagen, wie stolz und froh es mich macht, dass Sie mich von der Vollendung dieses Werkes in Kenntnis gesetzt? Hab’ ich einen leisen Schmerz dabei, ist es nur der, Ihnen nicht ganz folgen zu können. Für mich bleibt doch immer nur Stückwerk, was Sie als Ganzes erleben, gleichsam nacherschaffen dürfen! Und könnt’ ich Sie || um Etwas beneiden, so wär’s um diesen Genuss der Totalität, bei klarster Übersicht aller Einzelheiten. Ich kann mich da nur hineinträumen; aber es will mir scheinen, dass dieses Hochgefühl doch ein, dem künstlerischen Productionsgenuss nahe verwandtes sein müsse, und damit kann ja auch ich mich zufrieden geben, nicht? Was meine Freude noch gesteigert hat, war die Nachricht, dass auch die „Natürliche Schöpfungsgeschichte –“ mein natürlicher Liebling aus mehr als einem Grunde – wieder vor einer neuen Auflage stehe! Ich besitze die 8., also letzte derselben, und hatte sie, – ein merkwürdiger Zufall, – gerade in der Hand, als mir am Morgen des 29. September Ihr lieber Brief übergeben wurde. ||

Wissen Sie auch, dass Ihr Bild in diesem Buche das beste und sprechendste ist? Die Büste von Kopf will mir gar nicht gefallen, und auch Ihr Bild im Tropen-Costüm gibt nur halb den Haeckel, den wir kennen zu lernen so glücklich waren. Und Professor Müllner ist hierin meiner Meinung. –

den 12. Okt.

Soweit kam ich gestern Nachmittag. Dann erschien ein musikalischer Besuch, der lange blieb, und erst heute komm’ ich zum Schluss meines Briefes. Ich habe mich in den letzten Tagen viel mit den „Arabischen Korallen“ beschäftigt, und bei dieser Gelegenheit || wieder eine kleine Sammlung durchstöbert, die ich mir in Capri angelegt. Sie verdient zwar diesen Namen kaum, aber ich betrachte sie jetzt doch mit anderen Augen, und sie schien mir plötzlich so neu; allerdings hab’ ich dieselbe seit zehn Jahren nicht mehr in Händen gehabt, infolge einer eigenthümlichen Scheu. Nun durfte mich Manches daran erfreuen. – Und so schließ ich denn diesen Brief, dessen Ende Ihnen nur wiederholen soll, was er selbst variirt, dass ich in unwandelbarer Verehrung bleibe Ihre

treu ergebene

ME. delle Grazie.

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
11.10.1896
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 10
ID
10