Lipsius, Friedrich et al.

Richard Lipsius: Separatvotum, Jena, 27. November 1872

Separatvotum.

Der illustre Senat hat in seiner Sitzung vom 23. d. M. unter theilweiser Verwerfung des Denominationsberichts der philosophischen Facultät den Beschluß gefaßt, neben dem Hofrath Prof. Heinze den Docenten an der Universität Berlin Dr. Dühring für einen Lehrstuhl der Philosophie in Vorschlag zu bringen. Zur Grundlage dieses Beschlusses hat ein Separatvotum einiger Mitglieder der philosophischen Facultät gedient, welches unmittelbar beim Prorector eingereicht und erst in der Senatssitzung selbst zur Kenntniß der philosophischen Facultät und der übrigen Senatsmitglieder gebracht worden ist. Durch dieses Verfahren ist nicht nur der philosophischen Facultät die Möglichkeit, in ihrem Bericht auf das Separatvotum Rücksicht zu nehmen, abgeschnitten, sondern zugleich sämmtlichen anwesenden Senatoren die Nothwendigkeit auferlegt worden, über den Vorschlag der Separatvotanten unmittelbar nach Verlesung ihres Votums zu berathen und zu beschließen.

Den unter diesen Umständen zu Stande gekommenen Senatsbeschluß können die Unterzeichneten ihrerseits nur auf das Lebhafteste bedauern. Wenn es sich darum gehandelt hätte, dem Dr. Dühring eine außerordentliche Professur der Nationalökonomie oder der Mechanik zu verleihen, so hätten wir wohl, unter Berücksichtigung der vielfachen Anerkennung, welche seine in diese Gebiete einschlagenden Schriften gefunden haben, hiergegen nichts eingewendet. Dagegen müssen wir denselben für absolut ungeeignet halten, an unserer Universität eine, sei es nun ordentliche oder auch nur außerordentliche Professur der Philosophie zu bekleiden. Zu einem heutigen Lehrer der Philosophie gehört nicht bloß, daß er selbst über philosophische Fragen ernstlicher nachgedacht und sich einen festen Standpunkt gebildet habe, sondern vor Allem auch || dieses, daß er seine Zuhörer mit Lust und Liebe zum philosophischen Denken erfülle und ihnen zugleich eine lebhafte Vorstellung von der Schwierigkeit der Probleme einflöße, deren Lösung von Alters her die tiefsinnigsten Geister beschäftigt hat. Wir müssen es aber ganz entschieden bestreiten, daß eine solche Behandlung des Stoffes, wie sie Dr. Dühring in seiner „kritischen Geschichte der Philosophie“ eingeschlagen hat, und, da er dieses Buch auch seinen Vorlesungen zu Grunde zu legen pflegt, noch fortwährend einschlägt, den akademischen Lehrzwecken gemäß sei. Abgesehen davon, daß dieses Buch dem Leser nur die allerdürftigste Kenntniß der verschiedenen philosophischen Systeme vermittelt, so muß der anstoßende, absprechende und nicht selten höhnische Ton, in welchem Dr. Dühring über fremde Leistungen auf philosophischen Gebiete zu urtheilen liebt, unsere Studierenden, anstatt sie an ernstes und gründliches Denken zu gewöhnen, entweder zum oberflächlichen und schnellfertigen Aburtheilen verleiten, oder völlig von der Beschäftigung mit philosophischen Fragen abschrecken. Die Vorlesungen über Geschichte der Philosophie haben vor allem die Aufgabe, die Hörer in die Gedankenwelt unserer großen Denker einzuführen und sie mit Achtung vor ihrer geistigen Arbeit zu erfüllen. Die Art aber, wie Dr. Dühring über Forscher wie Aristoteles, Leibniz, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart und Schleiermacher aburtheilt, muß nothwendig gerade das Gegentheil des anzustrebenden Erfolges erzielen, und dies umso mehr, da ihm dem Vernehmen nach eine nicht unbedeutende Redegewandtheit zu Gebote steht.

Zur Begründung unseres ausgesprochenen Urteils verweisen wir beispielsweise auf die geringschätzige Art, mit welcher Dr. Dühring in dem angeführten Buche S. 113. 126. 128. 132 über Aristoteles sich ausläßt, den er als einen „mittelmäßigen“ Kopf, als einen bloßen Schwätzer hinstellt, der weder einer „originalen Conception“ noch einer eigenen Überzeugung fähig gewesen und durch nichts sagende Formeln ein bloßes || „Scheinwissen“ erzeugt habe. Wir heben ferner die unwürdige Weise hervor, in welcher S. 336 ff. der Optimismus von Leibniz aus einer niedrigen und gemeinen Sinnesweise hergeleitet wird; desgleichen die Beurtheilung der Selbstbeschränkung Kants gegenüber der intelligiblen Welt, welche der Verfasser einfach als einen „Verzicht des Verstandes auf das eigene Dasein“ oder als „Träume eines Geistersehers“ bezeichnet (S. 396 ff.), besonders aber den Abschnitt über Fichte, Schelling, Hegel, Herbart und Schleiermacher S. 424 ff., welcher die genannten Denker als Phantasten und Mystiker mit Spott und Hohn übergießt, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihre Gedankenarbeit dem Leser nahezubringen. Gegenüber einem Hegel, Herbart und Schleiermacher steigert sich die Rede des Verfassers sogar zu rohen Schimpfereien. So heißt es von Hegels Phänomenologie des Geistes, dies Buch „wird Jeden, der sich in demselben mit ein wenig Verstand und strengem Wissen umsieht, von dem bodenlosen und verworrenen Charakter des dem Verfasser eigenen Vorstellungsziels hinreichend belehren können“ (S. 434). Die auf Mathematik sich gründende Herbart’sche Psychologie wird als eine bloße „Psychologistik“, als ein „Schnörkelwerk mathematischer Formeln“ bezeichnet, in welchem „die vollständigste Unfähigkeit zu einem wirklich mathematischen Denken zu Tage trete“ (S. 443) und von Schleiermacher heißt es, er habe in seinen „philosophischen Versuchen nicht einmal diejenigen Anlagen bekundet, die erforderlich sind, um nur in der Richtung auf das Verkehrte etwas der Notiznahme Anheimfallendes hervorzubringen“ (S. 446). Dagegen wird Schopenhauer nicht bloß als „der bedeutendste“, sondern auch als der würdigste Philosoph seit Kant bezeichnet (S. 138). Außer Schopenhauer werden aus der Zeit nach || Hegel und Herbart nur noch Feuerbach, der Franzose August Comte und der Engländer Stuart Mill der Erwähnung werth gefunden. Trendelenburg wird als bloßer „Philologe der Philosophie“ gelegentlich abgefertigt, Lotze nicht einmal der Ehre eines höhnischen Seitenhiebes gewürdigt, es müßte sich denn etwa die Bemerkung S. 338 auch auf ihn beziehen, daß der von Leibniz dem Giordano Bruno „entwendete Gedankenvorrath“, „der sich von dem ursprünglichen Entnehmer auf dessen stille Adepten in ähnlicher Weise übertrug“, „das professorale Geschäft noch im 19. Jahrhundert genährt habe“. Schließlich darf die verächtliche und spöttische Art nicht unerwähnt bleiben, in welcher Dr. Dühring die religiösen Ideen in jeder Gestalt und die auf Begründung einer religiösen Weltanschauung gerichteten Untersuchungen der Philosophen aller Zeiten entweder als bloße „Gemüthsstörungen“ oder als Anbequemung an herrschende Zeitmächte behandelt. Vgl. z. B. S. 180. 195. 224. 268, 424 ff. 429 u.ä.

Wenn die Berufung des Herrn Dühring insbesondere im Hinblick auf seine eingehende Bekanntschaft mit dem heutigen Stande der Naturwissenschaften empfohlen wird, so räumen wir gern ein, daß naturwissenschaftliche Durchbildung eine an einem Professor der Philosophie sehr hochzuschätzende Eigenschaft ist. Je mehr aber gerade gegenwärtig bei einem Theil der Vertreter der Naturwissenschaften die Neigung sich geltend macht, die Geisteswissenschaften mit ausgesuchter Geringschätzung zu behandeln und jeder idealen Weltanschauung zu spotten, desto sorgfältiger gilt es sich vorzusehen, daß nicht ein ähnlicher Ton künftig auch an unserer Universität gerade auf derjenigen der Kanzel angeschlagen werde, welche zur Pflege der idealen Interessen des Lebens ganz vorzugsweise bestimmt ist. Es würde dies mit dem Geiste von Jena und der ganzen Vergangenheit unserer Hochschule in schneidendem Widerspruche stehn.

Jena den 27 November 1872

R. A. Lipsius

G. Stickel

Nipperdey

E. E. Schmid

A. Schmidt

C. Bursian

Moriz Schmidt

 

Letter metadata

Datierung
27.11.1872
Entstehungsort
Zielort
Jena
Besitzende Institution
Universitätsarchiv Jena
Signatur
UAJ, BA 437, 24r-25v
ID
47833