Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Frankfurt (Oder), 3. Juni 1846

Frankfurt a/O. | 3 Juni 46.

Geliebte Aeltern!

Hoffentlich hat Euch mein Brief vom letzten Sonnabend schon davon in Kenntniß gesetzt, daß ich die Pfingstfeiertage hier beim Onkel zubringen wollte. Dies kleine Zwischenspiel in meinem Pandekten-Leben geht nun mit morgen Abend, wo ich wieder in Berlin einzutreffen gedenke, auch schon zu Ende. Doch habe ich die Hoffnung, nachher desto munterer und ungetheilter zu meinen Arbeiten zurückzukehren.

Es ist mir in diesen Tagen recht aufgefallen, wie sehr die Veränderung des Aufenthalts und der gewöhnten Umgebung auf unsre Stimmung einwirkt. Ich würde mich in Berlin selbst unter meinen Freunden lange nicht so von allen Arbeitssorgen frei; nicht so leicht und fröhlich gefühlt haben wie hier. An den dauernden Wohnort knüpfen sich, trotz der vielen angenehmen Stunden die man in demselben erlebt, doch auch so manche trübe Erinnerungen, und schon meine Stube mit Schreibpult und Bücherbrett || (und dann die Gespräche mit den Freunden) würden mich, auch wenn ich den festen Vorsatz gehabt hätte, mir auf einige Tage alles Arbeiten aus dem Sinn zu schlagen, doch wieder daran erinnert und gequält, wenigstens den ungestörten Genuß einiger Erholung nicht gestattet haben. –

Hier in mir beinahe ganz neuen Umgebungen – denn nur einige Erinnerung von unseren Schlesischen Reisen her war mir geblieben, an den Markt, den Gasthof zum Löwen und die Brücke, in einer neu eingerichteten, allerliebsten Häuslichkeit, im Kreise der Lieben, in welchem ich mich so heimisch fühle, als ich es überhaupt nur woanders, als zu Hause sein kann, im Genusse der jetzt so reich geschmückten Natur, die sich schon in dem allerliebsten Garten am Hause darbietet und die Umgebungen Frankfurt ganz nett in dieser Sandwüste ausgestattet hat, – hier habe ich das schöne Fest so recht sorglos und heiter verlebt und oft an Euch, Ihr || Lieben, gedacht, denen es im Juli hier hoffentlich ebenso sehr gefallen wird.

Ich kam am Sonnabend Abend nach einem sehr langweiligen mehr als dreistündigem Wege hier an. Es war der bekannte Sand mit den bekannten Kiefern, zwischen denen wir uns verhältnißmäßig nur langsam dahinbewegten, da der Zug sehr stark war und da auf dieser Bahn überhaupt langsam gefahren wird. Heinrich hatte mich am Bahnhofe erwartet, doch verfehlt, da ich auf einem nicht gewöhnlichen Wege zur Packkammer gegangen war. Ich fand mich mit meinem Kofferträger bald zurecht; der Weg führte über den freundlichen Wilhelmsplatz am Anger vorbei durch eine enge Gasse in eine noch engere, die sich mir im Halbdunkel durch eine hohe Baumgruppe ganz zu schließen schien. Es war der Garten des Onkel‘s, der bei der Biegung, die die Fischerstraße beim Hartung‘schen Hause nimmt, den Hintergrund bildete, ich fand mich alsbald in dem nun ausgeputzten Hause und in der Mitte unsrer Lieben, die mich für den Abend kaum || noch erwartet hatten, da Heinrich kurz vor mir ohne mich zurückgekommen war.

Den Sonntag morgen gingen die Vettern und die ältern Mädchen mit mir in die „obere Kirche“, wo ein Prediger Kaiser eine recht gute Rede hielt, über das Wesen des heiligen Geistes, die Mittel, durch welche er zu uns kommt, und die Wirkungen, wie sie sich an uns zeigen. Viele halten hier K. für schroff, in dieser Predigt trat nur tiefer Ernst und ein sehr bestimmtes Wesen hervor, aber verbunden mit einer speculativ rationellen Auffassung des Gegenstandes, so daß mich die klare und gedrungene Entwicklung des Thema‘s sehr ansprach. Jonas hat ihn auch der Tante für den Confirmationsunterricht der Kinder empfohlen.

Berlin den 5. Juni

Nach der Kirche machte ich einige Besuche, zunächst bei Bennecke‘s, dann bei Scheller‘s, Wittchow‘s, Petersen‘s. Alle erkundigten sich sehr theilnehmend nach Euch. Bennecke‘s sahen recht wohl aus und kamen mir mit vieler Herzlichkeit entgegen; sie hat sich ebenso wenig verändert wie er. Ich mußte natürlich viel von Merseburg, Eurem Umgangskreis usw. erzählen. Die beiden ältesten Söhne waren auf || einer Ferienreise abwesend; die Tochter Anna ist recht groß geworden und eben erwachsen; sie hat noch etwas sehr schüchternes, scheint aber sonst ein recht nettes Mädchen zu sein. Ich wurde zum Abend gebeten und fand dort mehrere näher befreundete Familien in ihrem gewöhnlichen Sonntagskränzchen zusammen. Ein Assessor hatte seinen Neffen mitgebracht, der jetzt auch in Berlin studiert und den ich von Bonn her kannte. Mit diesem und den beiden jungen Mädchen, Anna und ihrer Freundin, einem Fräulein Strathmann, war ich den Abend zusammen. Von den Älteren lernten wir niemand kennen.

Bennecke‘s Wohnung liegt sehr freundlich in der Häuserreihe „um die halbe Stadt“, welche sich an dem die Oder begleitenden Höhenzuge des linken Ufers in einem Halbkreise um die eigentliche Stadt herumzieht, von welcher sie durch sehr freundliche Parkanlagen getrennt ist. Hinter den Häusern steigen liebliche Gärten bis zum Kamm der Hügelkette empor, von welchem aus man eine weite Aussicht über das grüne Oderthal bis zu den jenseits || niedrigeren Hügelreihen hat. –

Den Mittag waren Scheller‘s bei Sethen‘s zum Essen gewesen, und den Nachmittag hatten wir jungen Leute in dem Garten, der an Onkel‘s Wohnung stößt, Briefchen gespielt. Dieser Garten ist allerliebst; grad hinter dem Hause dehnt er sich, etwa in der Länge von Merkels Garten, aus, als Gemüse- und Blumengarten mit Weinlauben durchschnitten, zur Linken nach dem Hause eine freundlich von Gebüsch umgebene Laube, in welcher am Tage viel gesessen und meist Kaffee getrunken wurde, zur Rechten ein großes jetzt unbenutztes Treibhaus, in dessen Mitte sich ein sehr freundlicher runder Gartensaal befindet. Hinter diesem dehnt sich, etwa in der Ausdehnung des eigentlichen Gartens, ein kleiner Park mit schönen alten Bäumen und frischen Rasenplätzen aus, von einem kleinen Bach durchschnitten, und daran schließt sich noch ein dritter Theil des Gartens, der sich neben dem Wohnhause an der Straße hinzieht und an einen Gärtner vermietet ist, || welcher zugleich in Onkel‘s Garten die nöthige Arbeit thut.

Den 2ten Pfingstsonntag hörte ich Havenstein, zudem ich mit einem gewissen Vorurtheil ging, er hielt eine sehr gut ausgearbeitete Rede, die mir jedoch, besonders im ersten Theile, sich zu sehr in Bildern bewegte und des anregenden und ergreifenden Elementes, welches ich in einer Predigt suche, entbehrte. Den Nachmittag machten wir mit Scheller‘s eine Landpartie nach der 1 Stunde entfernten Buschmühle, wohin uns der Weg am Rande des Oderthal‘s am linken Ufer hin führte. Von diesem oberhalb Frankfurt liegenden Punkte aus hat man wenn man die naheliegenden Höhen ersteigt eine sehr liebliche Aussicht Oder abwärts über die Wiesen, die Stadt und deren Umgebung. Zwischen der Oder und diesen Höhen zieht sich ein über ½ Stunde langer und etwas weniges schmalerer Eichbusch hin, durch welchen wir in der Abendkühle den Rückweg || nahmen. Den Abend blieben wir alle bei Scheller‘s, welche ganz in der Nähe vom Onkel am s. g. Anger, einem weiten freien Platze, wohnen, der sich an der Gubner Vorstadt bis zum Thore hinzieht.

Den Vormittag hatte die ganze Familie Sethe u. auch meine Wenigkeit Besuch bei James Gillet gemacht. Es freute mich diese nette Familie kennen zu lernen; sie lassen sich Euch sehr empfehlen. –

Dienstag waren wir zum Kaffe bei Stadtrath Petersen‘s. Diese wohnen des Sommers in einem Hause am Anger, dessen Garten gleich dahinter an den Sethen‘schen stößt und mit diesem durch ein Thürchen in Verbindung steht. Die Doctorin Petersen bewohnt den andern Theil des Hauses Sommer und Winter, und so scheint sich mit diesen Familien schon bei der Nähe der Wohnung für Sethens ein näherer Umgang anknüpfen zu wollen. Ich brachte den Nachmittag || und Abend meist in Gesellschaft der Petersen‘schen Söhne zu; der eine, der älteste Sohn der Doctorin, studirt seit Ostern in Berlin iura, und ich lernte in ihm und seinen Brüdern u. Vettern recht liebe Leute kennen, mit denen man bei ihrem offenen ungenirten Wesen leicht vertraut wurde. Da der Student, der jetzt sein Jahr abdient, den folgenden Morgen schon zurück nach Berlin mußte, so hatten sich seine Schulfreunde den Abend bei ihm zu einem kleinen Picknick vereinigt; jeder brachte eine Flasche Wein mit, und so brachten wir den Abend in sehr heiteren Gesprächen hin.

Mittwoch war Helenen‘s Geburtstag, der mit Herminen‘s zugleich (welcher Mitte Juli ist) gefeiert wurde. Früh durch Bescherung, Nachmittags mit Chocolade, den Abend waren wir bei Scheller‘s eingeladen, um einer Tanzstunde von jungen Herren und Damen zuzusehen || an welcher Emilie Scheller Theil nimmt. Ich fand in dem Tanzlehrer Herrn Gischard, meinen alten Lehrer wieder und tanzte, da es an Herren fehlte, selbst viel mit. Wir konnten, da Tante etwas von der letzten Partie herunter war, leider keine Landpartie, trotz des herrlichen Wetters, vornehmen. Ich war von Bennecke‘s zu einer Fahrt nach Lebus eingeladen, sagte es jedoch ab, da ich an diesem Tage mich nicht gern von der Familie trennen wollte.

Gestern, Donnerstag, früh kam Onkel Julius mit den beiden Jungen an, um einige Tage da zu bleiben. Du kannst denken, liebe Mutter, was das für ein Jubel für die Kinder war, obgleich wir es schon vorher gewußt hatten. Den Nachmittag gingen wir alle zusammen (die beiden Jungen und kleinern Mädchen mußten jedoch wieder nach der Schule) nach Schleif‘s Berg, einem Vergnügensort, der auf dem halben Wege nach der Buschmühle liegt, || tranken da Kaffe, und kehrten dann über die neue Gubener Eisenbahn zurückgehend, heim. Diese Bahn, welche noch im Bau begriffen ist geht auf jenen Höhenzügen längs dem Oder-Thal nach Guben zu oft tief einschneidend, oft auf über 100 Fuß hohen Dämmen mit darunter weggehendem Tunnel die Einschnitte der Seitenthäler überschreitend. Es wird ein neuer sehr hübscher Bahnhof in der Nähe des alten der Berliner Bahn gebaut. Nach letzterem hatte ich meine Sachen geschickt und setzte mich gleich dort ein. Ich kam gegen zehn Uhr glücklich wieder in meinen 4 Wänden an, und bestellte gleich drüben beim Großvater noch die aufgetragenen Grüße.

Heut früh war mir es ganz weh ums Herz, als ich in meiner Stube bleiben mußte, während ich in Frankfurt gleich einen Spaziergang im Garten zu machen || gewöhnt war. Nun geht es wieder an die Arbeit, zu deren glücklichen Erfolg nach diesem Semester mir Gott Kraft verleihen möge.

Mittag elf Uhr

So eben bin ich wieder im Colleg gewesen, freilich noch mit meinen Gedanken oft in Frankfurt. Es kommt mir nun wie im Traum vor, wenn man so rasch die Lebensweise wieder ändern soll. Ich hatte mich so nett in das Schlaraffenleben eingelebt. – Aber ich komme allmählig dahinter, daß grad nicht angenehmer ist als nur auf einige Tage sich der gewohnten Arbeit zu entschlagen. Zu lange Erholung ermüdet eher. Ich kann wohl sagen, ich habe lange nicht so heitre, sorgenfreie Tage wie in dieser Pfingstwoche verlebt. Dazu trug außer dem Familienkreise, der Umgebung Frankfurt‘s auch das herrlichste Wetter bei, welches grad mit dem ersten Pfingsttage eintrat und noch immer fortdauert. In Frankfurt freut sich schon alles auf Euer Hinkommen u. läßt bestens grüßen. || Die Wittchow wirst Du leider nicht treffen, liebe Mutter, da sie dann in Havelberg sein wird; sie geht zu ihrer Schwester, welche jetzt bei ihr war, dahin – Großvater und die Tanten sind wohl. Wenn man sie nur mal aus dem Loche Berlin bei dem herrlichen || Sommerwetter herausbringen könnte. – In Frankfurt will man sie, wie ihr denken könnt, sehr gern haben, || aber es wird ja doch nichts daraus. – Dir, lieber Vater, schicke ich die gewünschte Karte, die hoffentlich Dir recht sein wird. Sie kostet nur einige Groschen. – Die Synode ist in voller || Thätigkeit. Neben Neander war Bethmann-Hollweg mit gleicher Stimmenzahl (36 Stimmen) u. Rietschel mit 1r Stimme || (von Neander) gewählt worden im ersten Skrutinium. Im 2ten bekam Neander der selbst nicht mit stimmte 38, H. nur 33. – || Auerswald und Graf Schwerin sollen für die Veröffentlichung der Verhandlungen sehr gut gesprochen haben. Ich denke || heut einmal Wieck wieder aufzusuchen. Er ist dieser Tage mit der Frau beim Großvater gewesen – Nun Gott befohlen Fräulein von G. mit muß meinen Brief zum Einpacken haben. || Ich bin ganz wohl. Euer Karl. –

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
03.06.1846
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 45067
ID
45067