Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Charlotte und Carl Gottlob Haeckel, Landsberg a. d. Warthe, 10. Januar 1863

Landsberg a/W 10/1 63.

Liebe Aeltern!

Meinem früheren Versprechen gemäß erzähle ich Euch noch einiges von dem am 30st vorigen Monats mir in Freienwalde gegebenen Abschiedsfeste.

Gegen 7 Uhr Abends holten mich Major von Plehwe und Kämmerer Linsingen als Mitglieder des Festkomités ab und begleiteten mich nach dem festlich erleuchteten und mit Blumen gezierten Poy‘schen Saale, in dem mich eine Gesellschaft von ca. 50 Personen erwartete. Zu meiner Rechten saßen mein College Grieben, dann Graf Hacke u. Jung, zur Linken Prediger Schallehn, Amtmann Feinlein,a Prediger Mellin, Major von Plehwe, mir gegenüber der liebe treue Aegidi, der gerade zum Weihnachtsfeste zu Hause war, Dr. Kopp, Feldhoff und Andere – Von der Haupttafel aus dehnten sich 2 lange Tafeln in Hufeisenform den Saal entlang.

Major von Plehwe begann mit einem passenden an die hergebrachte Sitte anknüpfenden Toast auf den König, nachdem unter Begleitung der Tafelmusik das erste der neulich übersandten Lieder abgesungen worden. Dies so wie das folgende, || das auf mich ging, hatte der alte Grieben gedichtet. Nur am 2ten Verse des ersten Liedes hatten noch mehrere an demselben Morgen bei Gelegenheit der Correktur gearbeitet und schließlich die wirklich recht gelungene Fassung des Hochs auf den König:

Sei uns stets nur der Gerechte,

Schützer unserer Landesrechte,

Preußens Herrscher, lebe hoch!

herausgetiftelt. – Als das Lied auf mich gesungen wurde – ich hatte es vorher noch nicht gelesen – wurde mir sehr weich; noch weicher, als Prediger Schallehn in gedrängter Rede, aber doch dabei die verschiedenen Seiten meinerb amtlichen und außerordentlichen Thätigkeit – wie die andern meinten, treffend – charakterisierend, das Hoch auf mich ausbrachte. Daß er mich mehr loben würde, als mir nach meiner Ansicht zukam, vermuthete ich. Aber seine klare und kurze Zusammenfassung des Bildes überraschte u. erfreute mich. Ich erwiederte nach einer Pause: ich fühlte mich tief beschämt durch dies Lob, F. habe nicht sowohl mich als das Ideal, dem ich nachgestrebt, gezeichnet; was wirklich in mir von demc Streben, für das öffentliche Leben zu wirken, vorhanden, sei verwebt. Dann berührte ich die Stellung, died die Beamten im Staate einnähmen, wie sie, im Gegensatz zu den ansäßigen Bürgern u. Grundbesitzern, zum großen Theil ohne spezielle Heimath im Lande um-||hergeworfen, e zwar den Vortheil, dadurch einen weiteren Gesichtskreis sich erwerben u.f bewahren zu können, genössen, aber auch leicht die nothwendige Anhänglichkeit an die spezielle Gegend, in der sie lebten, an die Gemeinde, in der sie sich aufhielten, verlören. Diesen Hang der Gleichgültigkeit habe ein jeder Beamte zu bekämpfen und es vielmehr als seine Pflicht anzusehen, der Gemeinde u. der bürgerlicheng Gesellschaft, in die ihn das Geschick hineingesetzt habe, nach Kräften zu dienen u. für die zu wirken, so weit es sein Amt zulasse. Nur dann könne man mit Erfolg umh große Politik sich kümmern, wenn man sichi gewöhnt, auch für das Gemeindeleben, dem man selbst angehöre, thätig zu sein. Darnach gehandelt, dies wenigstens erstrebt zu haben, sei ich mir bewußt. Dann schloß ich mit einem Hoch auf die Gemeinden meines bisherigen Wirkungskreises u. insbesondre auf die Stadt Freienwalde. – Nun folgten noch verschiedene Toaste: von Grieben auf die Verträglichkeit, inj der wir untereinander unser Amt geführt; auf die Höhere Knabenschule, den Turnverein, auf meine Familie; was mir aber am liebsten u. rührendsten war, auf Dich, lieber Alter, ausgebracht || durch Freund Aegidi, der, an das „anererbte“ Streben anknüpfend, die Tugenden des Großvaters Sethe, u. die Rechtlichkeit, den Patriotismus u. die Jugendfrische des alten noch lebenden Vaters pries. Nach 11 Uhr löste sich die Gesellschaft allmählig in kleinere Gruppen auf, die zum Theil noch lange beim Wein saßen. Die nächsten Freunde gingen; ich blieb noch etwas, mit diesem und jenem plaudernd, bis nach 12 Uhr mich ein Expresser mitk der Nachricht von einem Todschlag überraschte, in Folge dessen ich denn auch mitten aus der Packerei u. den Abschiedsvisitenl heraus am Neujahrstage noch über Land zu einer Obduktion fahren mußte. – – –

Am Freitag dem 2ten sagte mir noch eine Deputation der Turner Lebewohl. Von den Büreau-Beamten (die auch beim Abschiedsfest gewesen) waren, war besonders gerührt der Sekretär Hame, unser penibler u. gewissenhafter Kassenmann, als ich ihm am Freitag Adieu sagte. Der arme Borsdorf mein schwindsüchtiger Bote,m sagte mir zuletzt mit Thränen in den Augen, er habe mir so viel zu sagen, was ihm auf dem Herzen liege, aber er könne es nicht. Als ich am Sonnabend früh nach Wriezen abfuhr, war er noch an meinem Wagen.

Meine Abschiedsvisiten konnte ich, infolge der Abhaltung am Neujahrstage, nur im Fluge zwischen Packen u. Aktenarbeiten, am Freitag fertig machen, und war nach dem Trubel ganz froh als ich am Sonnabend früh ruhig in Wagen nach Wriezen saß. Mimi war der Abschied diesmal sehr schwer geworden.n

a eingef.: Amtmann Feinlein; b gestr. der; eingef.: meiner; c eingef.: dem; d eingef.: die; e gestr.: leicht die nothwendige Anhängl; f gestr.: zu; eingef.: erwerben u.; g eingef.: bürgerlichen; h eingef.: um; i eingef.: sich; j gestr.: mit; eingef.: in; k irrtüml.: mich; leingef.: und den Abschiedsvisiten; m eingef.: mein schwindsüchtiger Bote; n Text weiter auf dem linken Seitenrand: im Wagen …schwer geworden.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
10.01.1863
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 44687
ID
44687