Bergner, Franz

Franz Bergner an Ernst Haeckel, Zyrardow, 25. April 1902

Zyrardow 25/4 02

Euer Wohlgeboren!

Ich hatte vor Wochen einen zweiten Brief geschrieben mit Inhalt – Weltschöpfung – ob er seinen Bestimmungsort erreicht hat kann ich nicht wissen.

Mittlerweile habe ich mich nach dem von Ihnen empfohlenen Buche umgesehen. Es ist bei unserem Leseverein, im Katalog eingetragen – Natürliche Schöpfungsgeschichte –. Erhalten könnte ich es aber nicht, weil es immer in andern Händen war. Hoffentlich werde ich es doch erlangen.

Was die Weltschöpfung anbelangt, so müssen, wenn 100 Beschreibungen gleichzeitig erscheinen u. alle wahr sein sollen, auch alle übereinstimmen, anderen falls wäre entweder nur einea oder gar keine wahr.

Es kann daher nur eine wahre Weltschöpfung geben.

Dasselbe gilt von der Wahrheit überhaupt.

Wenn Christus z. B. vom Antichristen warnt, so hat er unwissentlich eine Dummheit begangen, denn, hat er die Wahrheit u. nur Wahrheit gelehrt, so kann sie ein anderer nicht umwerfen.

Wahrheit ist unvertilgbar, ewig: sie tritt überall u. zu allen Zeiten uns entgegen, sie ist allgegenwärtig. Sie geht durch alle ewig erscheinenden Dinge.

Früher hieß es, die Sonne läuft um die Erde, heute dagegen ist’s die Erde die sich dreht: nun soll einmal jemand versuchen die Sache wieder umzukehren, u. a. mehr.

Hätte Christus nur Wahrheit gelehrt, so hätte er nicht Ursache gehabt eufersüchtig [!] auf die Zukunft zu blicken. Wahrheit kann es nur eine geben. Es hätte können also unter allen Umständen nur in seinem Namen weiter gelehrt werden. Ist hingegen etwas unwahr, so läßt es sich nicht erhalten, es muß zugrunde gehen.

Die Christliche Religion besteht großenteils aus halbem Wissen d. h. Subjektionen, menschlichem Dafürhalten. Es ist anmaßend gewesen, so entschieden, abschließend von einem Gott u. s. w. zu sprechen, wenn man doch nichts weiß davon. Da heißt es immer, er ist demüthig, natürlich auch bescheiden etc. gewesen u. wir finden doch ebenso gut das Gegentheil auch allerdings nur versteckt. ||

Von Gott hat er doch nicht absolut wahres gewußt, nichts wissen können, weil es kein solches Ding giebt. Er hat aber eines geltend machen wollen: konnte er da sich als weißer Mann nicht sagen, wenn du nichts absolut wahres, bestimmtes, überzeugendes weißt, vielleicht weiß ein anderer mehr u. wenn jetzt nicht, dann vielleicht später, da es aber ein schwacher menschlicher Geist war so beging erb den menschlichen Fehler, anmaßend zu denken. – Wer wird das ergründen, erforschen können wenn nicht ich, er schloss es ab, daß ja für einen andern nichts mehr übrig bleiben soll.

Alle die schönen religiösen Gefühle, wie sie die Menschen empfinden sind nicht allein das was sie scheinen, sondern sind auch das was sie nicht scheinen. Christus als halbwissender konnte nicht sehen, erkennen wie sich diese schönen Gefühle im kausalen Verlaufe verändern u. zum Gegensätzlichen, zu Leiden, Schmerzen etc. werden (die Menschheit überhaupt weiß noch recht wenig davon) er konnte nicht sehen, erkennen, wissen, daß wir daher Leiden gleich den Freuden, von dem einen soviel wie von dem anderen empfangen, empfangen müssen, weil Zeit u. Raum der Ursprung alles Seins es so mit sich bringen. Er lehrt u. unterrichtet die Menschheit wie sie glücklich werden kann und weiß nicht, daß das Unglück (das Gegenteil) als Folge erscheinen muß. Die groben Sünden die der Menschheit auch gefielen hat er zwar verboten, aber andere dafür an die Hand gegeben, die mehr diesbezüglichen Schaden anrichten, weil sie nicht als Sünde erkannt wurden.c

Alles schön empfundene ist nur eine Hälfte vom Ganzen die andere Hälfte ist bitter u. erst beides zusammen ist ein Ganzes.

Die Menschheit will sich es stets verbessern u. geräth nur mehr und mehr im Labyrinth. Wier [!] wissen, daß ein Christgläubiger der sogenannten Trost in der Religion sucht nicht ausschließlich das findet was er sucht u. will. Das was er findet sind immer wieder Junge vom Alten. Er muß, wenn er durch die Religion schön empfindet auch das Gegensätzliche (Gegenteil) empfangen u. hat daher immer wieder neuen Grund nach Trost, Erbarmen, Erlösung etc. zu suchen, zu bitten. Er wird durch all seinen schönen Empfindungen u. den dazu gehörigen schweren Stunden nur mehr noch das was er schon ist. er verwickelt sich mehr und mehr, geräth tiefer u. tiefer im bodenlosen Schlamm der Gefühle.

Er wird mehr schöne Gefühle finden, empfangen, er wird findiger werden im Aufsuchen derselben, er wird aber auch all das unausbleibliche Gegensätzliche empfangen.

Ganz genau so ergeht es ja auch dem Poeten und allen Menschen überhaupt. Wie schön empfindet ein Poet u. alle diejenigen, die die Werke begreifen u. nachempfinden, aber scheußlich ist der dazu gehörige Schmerz, der darnach gestaltete Lebensinnhalt. Es ist nicht Zufall wenn der Wunsch schwerer Augenblicke, schwere Stunden hat, nein, sie sind natürliche Folgen schöner Stunden.

Da wir nun wissen daß sich alles so verhält, so muß man sich vernünftigerweise fragen, warum alles das || wahrhaftig scheint was uns gefällt und angenehm ist, wenn es doch im Grunde nicht das ist (Einer hält das Essen für das Beste, der andere die Liebe, ein anderer die Religion, ein anderer wieder die Poesie, die Kunst, die Wissenschaft, die Wahrheit etc andere dagegen gehen den groben Sünden nach die in der Religion verboten sind, natürlich haben sie auch ihre schlimmen Folgen. Aber in der Natur gelten nicht allein diese als Sünden die in der Religion verboten sind, sondern überhaupt alles was uns schön, angenehm etc ist. Im Buche der Natur gibt es nur zwei Rubriken für Gefühle, eine für die schönen u. eine für died gegensätzlichen, die Summen darin müssen immer gleich sein wofür die Natur sorgt.

Man kann also sagen, alles schöne, alles angenehme – ob roh, ob fein oder edel z. B. ob Schadenfreude oder Götterlust, ob Geschlechtsbefriedigung oder angenehmer Verkersvorstellung mit Gott, ob Freude an der Lüge oder der Wahrheit = ist Sünde u. zwar deshalb Sünde, weil man doch für genossenes bestraft wird d. h. weil das Gegensätzliche folgen muß. Hat man mehr Freude, so erhält man rohe Leiden etc überhaupt gleiches mit gleichem) Daß uns die Religion, die Poesie, die Kunst, die Wissenschaft, die Wahrheit, die Erkenntnis etc begerenswerth, erstrebenswerth, Gut, wahr etc erscheint, daß e wir durch Stück u. theilweise Erreichung, durch schrittweiser Einführung, Eindringung in einen oder anderen dabei schön empfinden, daß trotz Verbot der sogenannten Sünden dennoch gesündigt wird, daß trotz der hier unaufgedeckten (sagen wir) Sünden dennoch weiter gesündigt werden wird, kommt daher. Der Stein, der aus der Hand fahren gelassen wird, fällt gerne senkrecht zu Boden. Der Rauch zieht gerne mit der Windrichtung, das Wasser läuft gerne zu Thal, sucht gerne das Tiefere, die Bäume, Sträucher, Blumen u. Gräßer sprossen gerne im Frühjahr etc weil es muß. Es muß alles gerne älter, gerne anders werden. Alles was geschieht muß geschehen, es ist eine zwingende Nothwendigkeit. Etwas Neues entsteht gerne u. weil es entstand, muß es nothwendig zum Gegensätzlichen werden.

Wir werden also gerne älter, gerne anders, es ist für jeden etwas vorhanden dahin er strebt, verlangt, wonach er sucht wie das Wasser nach der tieferen Stelle: jeder findet, jedem spiegelt es etwas vor oder wird ihm sozusagen in den Schoß geworfen etc

Alles in Allem, die Welt wird gerne älter, gerne anders u. allein nur deshalb folgt das Gegensätzliche. Würden wir uns nicht der Poesie, der Religion, der Kunst, der Wahrheit etc erfreuen, so könnten die gegensätzlichen Gefühle nicht erscheinen.

Es hat also der Religionsschwärmer, der Dichter, der Wahrheitsliebende etc von all dem weiter nichts davon als daß er schön u. häßlich empfindet.

Aus all dem ist wieder ersichtlich, daß es keine Werthe giebt. Ich z. B. bin nicht mehr oder wenigerf als ein Stäubchen, ein Stäubchen nicht mehr || als ein Weltkörper oder eine Fliege (daß sich manches mehr dünkt, bedeutender, ist rein menschlich, subjektiv und ist eine hervorragende Eigenschaft Unwissender). Gestern ist die Welt noch nicht gewesen, morgen ist sie nicht mehr, sie ist im Vergleich zur unendlichen Zeit und dem Raum eine Eintagsfliege.

Immer und ewig erscheint Neues, Anderes.

Ich gebe da einen Wahlspruch den ich mehrere Jahre strengstens nahm. Er wirkt mehr als Beten, Fasten, Selbstgeißelung etc und heißt! Thue das nicht was gerne du thust, und thue das was g ungerne du thust. Das ist nur ganz wider der menschlichen Natur. Der Mensch hat da jeden Augenblick zu bewahren, denn unwillkürlich führt es ihn stets seinen gewohnten Weg den er doch nicht gehen sollte. Ein ungeheures Arbeitsfeld.

Da erst fühlt er seine Ohnmacht u. kommt ihm zum Bewußtsein.

Wäre Christus länger h oder immer in der Wüste geblieben u. hätte er nicht allein diesen groben Versuchungen widerstanden, sondern auch den versteckten, den feinen, den vermummten, denen, die sich ihm als Sendboten seines Gottes ausgaben, dann hätte er auch noch mehr erfahren, mehr erkannt. Freilich hat er in der Wüste Selbstberathung gehalten ob er sich der sogenannten Welt geben soll oder nicht, freilich widerstand er den groben Versuchungen, den feinen, die er nicht erkannte aber erlag er. Denn er that das was ihm vom größten Interesse war, er folgte diesem seinen Hang, seinem schönen unerkannten Verderber. Wie schon gesagt, alles wird zum Gegensätzlichen; Er nannte sich Erlöser, Sohn Gottes etc (lauter Dinge die es nicht geben kann) Wier sehen da die grenzenlose Selbsterhebung (wenn auch unabsichtlich).

Wer sich erhöht wird erniedrigt, das traf auch bei ihm dem Sohne Gottes zu. Es giebt nichts höheres oder tieferes, Alles im unendlichen Raum und in der Zeit hat gleichen Werth oder Unwerth. Das kleinste, wie das größte. Ein Gedanke, eine schöne Empfindung, sowie ein Weltkörper sind Realitäten die durch die Zeit älter, anders u. zum Gegensätzlichen werden müssen.

Gäbe es also einen Gott wie sich ihn die Menschheit vorstellt, so müßte er, wenn er sich Herr über alles fühlt, wenn er das u. jenes liebt wie die Menschen sagen, auch das Gegensätzliche empfinden, empfangen, er wäre also einestheils zu beneiden, anderntheils zu bedauern. Erkennt man die Welt vollkommen, so hat man nichts zu beneiden noch zu bedauern, nichts zu belachen noch zu beweinen.

Da aber Gott lachen u. weinen resp. sich des einen freuen und anderes wieder ihm mißfallen soll, so sehen wier, daß es ein Menschengeschaffenes, mit menschlichen Eigenschaften belasteter, unwissender, beschränkter Gott ist, der der Vergessenheit anheimfallen sollte.

Hochachtungsvoll

Bergner

a eingef.: eine; b eingef.: er; c mit Rotstift eingef., Text weiter am rechten Rand und am unteren Rand von S. 2: Er lehrt … erkannt wurden.; d eingef.: die; e gestr.: xxx; f eingef.: oder weniger; g gestr.: gern; h gestr.: in

 

Letter metadata

Recipient
Dating
25.04.1902
Place of origin
Country of origin
Possessing institution
EHA Jena
Signature
A 7435
ID
7435